5. Kapitel

 

Zigeunermärchen

oder

Wie ich Ochs' und Eber kennenlernte

 

Gedankenfetzen jagten durch meinen Kopf wie ein Rudel Jagdhunde, das im Slalom um die Bäume hetzte und den Fuchs doch nicht einholte. Wie hatte Jos mich durchschaut, oder besser, was hatte er erfahren?

Dass ich ein Mädchen war? Ich hatte mir Mühe gegeben, alles ›Weibliche‹ an meinem Körper irgendwie zu verstecken, und da meinen Körper im Vergleich zu denen meiner Klassenkameradinnen auch noch nicht allzu viele Rundungen zierten konnte man unter meinen weiten Kleidern wenig wahrnehmen. Meine Stimme? Nicht sehr authentisch, aber annehmbar. Gesicht? Naja… nicht so fein geschnitten, wie man es sich wünscht, aber auch keinesfalls auffallend männlich. Hatte er mich wirklich entlarvt?

Aber es gab noch so viele andere Möglichkeiten! Vielleicht war er dem König so feindlich gesinnt, dass er mir meine ehemaligen Pläne nicht verzeihen konnte, oder er traute meiner Aferli-Eritrea-Geschichte nicht!

Aber würde er wirklich töten? Würde er das tun, mir wirklich die Kehle aufschneiden, könnte er sich dazu aufraffen? Wie standen die Menschen dazu?

Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden und meine Beine schon wieder unter mir nachgaben. Ich hatte Jos wirklich vertraut, und nun das. Warum geschah all das, wie konnte –

»Genau das darf nicht passieren!«, schimpfte Jos und nahm das Messer von meiner Kehle. »Damit überrascht du vielleicht mich, aber keine ausgebildeten, erfahrenen Wachen! Sie würden es als Fluchtversuch ansehen und du wärst schneller blutüberströmt, als du ›Unschuld‹ sagen kannst! Versuch lieber, zu verhandeln, oder warte eine bessere Gelegenheit ab.«

Ich hob langsam den Blick und sah Jos ernst an. »Das war ein Scherz.« Eigentlich sollte es eine Frage werden, aber meine Stimme klang so ausdruckslos, dass man es wohl kaum als eine solche erkennen konnte.

Mein Gegenüber runzelte die Stirn. »Nein, es war eine Übung. Wenn ich dich vorwarne, reagierst du anders und du lernst nichts draus.« So entrüstet ich auch war, ich musste einsehen, dass er Recht hatte. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob die Aktion irgendwas gebracht hatte, außer, dass ich beinahe an meinen Gedanken erstickt wäre, also fügte ich sicherheitshalber noch hinzu: »Du bist grässlich.« Jos grinste liebenswürdig.

»Ja, ich weiß, aber du siehst ja, wie weit du mit deiner Gutmütigkeit kommst.«

»Ich lebe noch, obwohl du zwei Mal mein Leben in der Hand hattest… Aber wir müssen es nicht auf ein drittes Mal ankommen lassen, nein?« Er schüttelte den Kopf.

»Inzwischen dürftest du verstanden haben, dass umkippen nicht sehr effektiv ist.« Auf meinem Gesicht breitete sich ein schelmisches Schmunzeln auf.

»Es sei denn, ich gerate an jemanden wie dich.« Der Stoß, der mich an der Schulter traf, war nicht gerade sanft. »Ja ja, war nicht so gemeint«, warf ich ein. »Ich bin dir unheimlich dankbar, weil du mich nicht umgebracht hast.« Mit einem zufriedenen Lächeln erwiderte Jos:

»Solltest du auch!«

 

Nach der restlichen Theorie kamen wir langsam zu praktischen Teil und Jos zeigte mir einige der einfachsten Standard-Manöver und wie ich sie abwehrte. Da war zum Beispiel der »Zwerg«, ein horizontaler Schlag, der die Körpermitte – oder einen Zwergenhals – durchtrennte. Das »Dach« zum Schädelspalten und... ja... Jos nuschelte irgendwas von »Flug« oder »Pflug«, aber »von-unten-durch-die-Mitte« oder »Kastration« würde auch passen. ›Nahezu der effektivste Streich‹, dachte ich amüsiert. Als das alles durch war kamen die Paraden, aber ich fragte mich, ob mir diese immer noch recht trockene Praxis viel brachte. Wenn ich der Schlacht war, vollgepumpt mit Adrenalin, würde ich mich dann an irgendwelche Ochsen und Eber erinnern? In einem Buch, das ich mal gelesen hatte, waren die Charaktere, soweit ich mich erinnern konnte, einfach mit Stöcken aufeinander losgegangen. Keine Ahnung, ob der Autor diese Technik erprobt hatte, außerdem hatte ich nur ein paar Tage, aber es schien mir doch ein bisschen plausibler.

Zumindest bis zu dem Punkt, an dem das dann alles irgendwie verknüpft wurde und immer schneller und schneller wurde. Für Jos vermutlich immer noch langsam, aber ich hatte dauernd ein Messer unter dem Kinn und am Schlüsselbein zu liegen. Trotzdem hatte der Schwertkampf etwas Angenehmes, weniger Wildes als das Gebalge vorhin, wenigstens für den Moment. Hinter jeder Bewegung schien sich eine Taktik zu verstecken, diszipliniert, abgeschätzt, zielsicher.

Vor Faszination merkte ich es kaum, aber nach einer Weile war ich wirklich erschöpft. Mein Arm wurde schwer, meine ohnehin schon schwunglosen Schläge immer träger und wenn ich versuchte, auszuweichen, war ich meistens ein Müh zu langsam.

»Das reicht«, ordnete Jos an und klopfte mir auf die Schulter. »Aber das war noch weit entfernt von einem richtigen Kampf.« Danke für den Hinweis, wäre mir nie in den Sinn gekommen.

Ich musste wohl das Gesicht verzogen haben, denn Jos lachte leise. »So schlecht warst du gar nicht, aber in einer halben Stunde kannst du nicht lernen, wofür andere Jahre brauchen.« Mit einem leisen Seufzer stimmte ich ihm zu und begleitete ihn in den Schankraum, wo wir uns Essen besorgten. Mit unserem Mahl, dass aus irgendwelchen Brotresten und Ei zusammengemischt und in die Pfanne geworfen wurde, ließen wir uns auf einem grasbewachsenen Hügel nieder und plauderten bis die Hauptbetriebszeit des Wirtshauses begann und Jos sich um die Tiere und Wagen des Reisenden kümmern musste.

»Ich hab morgen Vormittag übrigens keine Zeit«, sagte Jos, während er einem riesigen Apfelschimmel Hafer in die Futterkrippe schüttete. »Sonntags ist immer so viel los, dass ich den ganzen Tag hier bin und in der Küche helfe.«

»Macht nichts«, antwortete ich und warf ein paar Apfelschnitze, die ich gerade zurechtschnitt, in einen kleinen Eimer. »Ich denke, ich gehe noch mal auf den Markt und versuche mich an Lektion Eins. Bist du nachmittags wieder im Stall?«

»Gegen fünf, ja.«

»Gut, dann komme ich.« Ich lief an den Boxen vorbei und steckte den Pferden ein bisschen Obst zu. Bei Atlons Pferd blieb ich stehen.

»Und, weißt du schon, was du machen willst? Verweilst du in Denj’Gol?« Jos erwartungsvolles Gesicht zu enttäuschen war mir im Moment unmöglich, also zuckte ich nur die Achseln und ging zum nächsten Pferd.

»Keine Ahnung. Ich hab hier ja keine Arbeit oder eine Bleibe. Und da ich ja, wie du ganz richtig erkannt hast, zu nichts nutze bin, wüsste ich nicht, wer mich haben wollen würde. Volksbelustigung beim Schaukampf? Ich glaube, das Publikum wäre ziemlich enttäuscht, wenn das Ganze nur fünf Sekunden dauert.« Jos schwieg, aber nach einer Weile kehrte der vertraute, fröhliche Bursche wieder zurück und wir witzelten herum, ohne weiter darüber nach zu denken. Ich wollte das nämlich genau so wenig tun wie er.

 

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Atlon schon weg. Ich schnappte mir meinen kleinen Lederbeutel, drapierte ihn so, dass der nächstbeste Taschendieb ihn mir nicht so schnell abnehmen konnte und machte mich auf den Weg nach unten.

Als ich die schmale Treppe hinunter kam, servierte Jos gerade einem fetten, kahlköpfigen Mann sein Frühstück. Er warf mir ein entschuldigendes Lächeln zu, worauf ich schmunzelnd den Kopf schüttelte. Als wäre es seine Schuld.

Ich schlenderte erneut zum Markt und bewunderte die Waren, die zur Schau standen. Ich könnte wetten, dass Mama von den Töpferwaren begeistert gewesen wäre. Sie hatte das mal eine Zeit lang versucht, war dann aber zur Malerei zurückgekehrt, wie immer. Mama kämpfte sich eigentlich durch jegliche kreative Beschäftigung, aber spätestens nach einem halben Jahr wurde sie dann doch wieder von ihrer Leinwand in Beschlag genommen.

Viel mehr faszinierten mich aber die Stoffe, die über glatt geschliffenen dünnen Stämmen im Wind wehten. Fließende Seide, die schimmerte wie ein sanft gekräuselter See im Mondlicht, hauchdünner Chiffon, der sich wie eine leise Brise über die Schultern einer reichen Tochter legte, schwerer Samt in gedeckteren Farben und vorgefertigte Tücher mit verschlungenen Stickereien an den Rändern. Ich hätte nur zu gerne eines mitgenommen, um es Mama zu schenken, aber ich war nun schon viel länger als beim letzten Mal hier und hatte keine Ahnung, wann ich zurückkehren würde und ob ich überhaupt Dinge aus dieser Zeit in meine eigene mitnehmen konnte.

Bei diesem Problem war ich bis jetzt immer hängen geblieben. Dass ich tatsächlich durch die Zeiten hüpfte, hatte ich erstaunlich schnell akzeptiert, aber meine Reisen waren so plötzlich und spontan, dass ich mir kaum vorstellen konnte, dass sie durch irgendetwas ausgelöst wurden, geschweige denn sich kontrollieren ließen. Zuhause war ich zum ersten Mal von der Eiche aus los gereist und hatte eine Handvoll Jahrhunderte davor sogar einen ähnlichen Baum getroffen. Mindestens fünf Meilen von dort entfernt, in der Herberge, konnte ich trotzdem wieder im Stadtpark landen und von meinem eigenen Zimmer aus in das von Atlon gemietete. Allerdings stimmte das Tag-Nacht-Verhältnis nie so ganz.

Das heißt, wenn ich zwischen den Zeiten reise komme ich immer zu den Orten, an denen ich mich zuletzt aufgehalten habe, verbunden mit einem zufälligem oder gut durchdachtem Zeitprinzip‹, folgerte ich.

Noch immer in meinen Gedanken versunken, kaufte ich mir wieder eines der leckeren Brötchen und knabberte mit leerem Blick daran herum, während ich an einer Häuserreihe vorbei spazierte. Plötzlich spürte ich, dass jemand meine Tunika festhielt und wirbelte erschrocken herum, die schlimmsten Vorahnungen vor Augen. Sie wurden nicht bestätigt.

Vor mir saß ein kleines mageres Mädchen, vielleicht sieben Jahre alt. Ihre großen, dunklen Augen blickten mich aus dem sonnenverbrannten Gesicht flehend an. Schwarzes Haar, das mit Heuhalmen gespickt war, fiel in zerzausten Locken ihren Rücken hinab und wurde nur von einem groben Tuch zurückgehalten. ›Wie eine kleine Zigeunerin‹, dachte ich, ehe mir bewusst wurde, dass das ja ein Schimpfwort geworden war. Man konnte nichts mehr sagen, ohne irgendjemanden zu diskriminieren; war ich eigentlich ein »schwach pigmentierter Mensch«? Lieber »Langnase« als das.

»Bitte«, hauchte das Mädchen mit hoher Stimme. Ich lächelte ihr mitleidig zu und biss mir auf die Lippe, als ich spürte, dass Tränen in meine Augen traten, als sie ihre kleine Hand ausstreckte, in die ich die zweite Hälfte meines Brötchens legte.

»Ich danke Euch«, wisperte sie mit erstickter Stimme und ich wollte mich gerade abwenden, als sie wieder an meinem Ärmel zupfte. »Wartet!« Ich blieb verwirrt stehen und betrachtete die Kleine, die in einem sanften Ton hinzufügte: »Bitte, zeigt mir Eure Hände.« Ich runzelte die Stirn. War sie wirklich so etwas wie eine Wahrsagerin?

Da von einem kleinen Mädchen in einer belebten Gasse wohl kaum eine Gefahr ausgehen konnte, hockte ich mich vor sie in den Staub und sie fasste sanft meine Hände, in denen sich plötzlich ein seltsames, immer stärker werdendes Kribbeln ausbreitete, dessen Ursprung ich beim besten Willen nicht ausmachen konnte. Ihre Fingerspitzen fuhren über meine Handlinien, bis sie auf einmal genau in der Mitte meines Handtellers verharrte. Mit aufgerissenen Augen sah sie in einer ruckartigen Bewegung auf und bohrte ihre schlagartig vor Energie trotzenden Pupillen in meine. Bei Gott, was hatte sie vorausgesehen? Ich verharrte regungslos, als sie mein Gesicht in ihre rauen Hände schloss und mich lange Zeit bedeutungsvoll ansah.

»Du bist für Großes bestimmt«, raunte sie mit einer Stimme, die gar nicht zu dem schmalen Körper zu passen schien, »aber nicht hier. Hilf uns, Narièl, befreie uns! Deine Zeit ist gekommen! Narièl!« Auf einmal keuchte sie erschöpft, sprang auf wie eine verschreckte Katze und rannte wie der Blitz davon. Das halbe Brötchen lag vor mir in der Gosse.

 

Ich versuchte einige Zeit, die Kleine zwischen den vielen Menschen ausfindig zu machen, aber sie schien vom Erdboden verschwunden zu sein. Mein Gefühl sagte mir, dass sie gewusst hatte, wer ich war; ein Mädchen aus einer anderen Zeit, das versucht, sein Leben zu verstehen, kein schmächtiger Junge, der sich in einer kleinen Werkstatt verdingen will und gerade einen brutalen Schaukampf aufsucht.

Was meinte sie mit Narièl? War das ein Name? Eine Bezeichnung? Und warum »nicht hier«? Von welchem Ort ging die Gefahr aus, die in den Straßen gefürchtet wurde?

In diesem Moment beschloss ich, mit Atlon zum Palast des Königs zu ziehen, was auch immer mich dort erwarten würde.