Ich überlebte den Donnerstag mit seinen wenigen sechs Stunden, so gut es ging. Die meisten Lehrer waren nicht mehr ganz so emsig dabei und versuchten, vor den Winterferien kein neues Thema mehr zu beginnen. In meinen letzten beiden Stunden, Musik, machten wir nur ein kurzes Notendiktat und sangen dann die restliche Zeit. Ich mochte die langsamen, melancholischen Lieder am meisten, auch wenn sie etwas zu kurz kamen, weil meine Klassenkameraden eher im Pop-Teil der Notenbücher blätterten. Ganz zum Schluss, als niemand mehr Vorschläge machte, weil die populären Lieder alle schon durch waren, sang unsere Lehrerin uns einen Kanon vor. Die meisten murrten, aber ich lauschte andächtig der Melodie und musste lächeln. Es klang wie ein Wiegenlied, so sanft und fließend, ohne Worte. Auch, als ich schon an der Bushaltestelle stand, summte ich es noch vor mich hin, leise Töne im kalten Wind.

Der Bus hielt direkt vor mir und ich wurde von einer wogenden Masse direkt hinein geschubst. Ich eilte auf den Platz, auf dem ich gestern gesessen hatte, und setzte mich ans Fenster. Wahrscheinlich hätte ich es nie zugegeben, aber in mir regte sich die schwache Hoffnung, den weißen Hirsch wieder zu sehen.

Als der Bus immer voller wurde setzte sich ein winziger Siebtklässler neben mich. Also schon mal kein Tivon. Ein bisschen enttäuscht holte ich meinen iPod heraus und versank wieder in Tschaikowskys Welten, bis wir in den Wald vor meinem Dorf kamen. Ich stellte die Musik leiser und sah aufmerksam nach draußen. Heute war ein außergewöhnlich schöner, sonniger Tag, und das warme, goldene Licht fiel auf die kahlen Äste und Stämme wie auf den moosigen Boden. Nur der weiße Hirsch tauchte nicht auf. Ich senkte traurig meinen Blick und fragte mich im selben Moment, was eigentlich mit mir los war. Was hatte ich denn gedacht? Dass der Hirsch dort festgewachsen war und nur auf mich wartete? Dennoch reifte in mir der Gedanke aus, der einen Spaziergang im Wald für eine interessante Sache hielt. ›Etwas Besseres habe ich ja eh nicht zu tun‹, dachte ich halb gleichgültig, halb gespannt. Ich malte mir schon aus, was passieren würde, ehe mich die Ansage meiner Haltestelle wieder in den trüben Bus zurückrief und ich mich rasch aufrappelte, um zum Ausgang zu kommen.

Mama war noch nicht zuhause, donnerstags arbeitete sie immer länger. Ich schrieb ihr einen Zettel, für den Fall, dass ich länger weg blieb, und zog meine halbwegs wasserdichten Stiefel an. So ausgerüstet holte ich mein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr zum Wald. An einer dünnen Birke schloss ich das Rad an und lief einfach in den Wald hinein. Die Sonne stand direkt in meinem Rücken, so dass ich mir wenig Sorgen bezüglich des wieder-Herausfindens machte.

Der heutige Tag war ziemlich trocken. Die Vögel zwitscherten, als wäre es April und nicht Ende Januar, und auch die Luft roch nach Frühling und Neuerwachen. Ich lief einfach immer weiter und wartete darauf, dass sich irgendetwas veränderte, etwas passierte. Erst als ich nach mehreren Kilometern auf einer kleinen Lichtung ankam, vermutete ich langsam, dass ich mit diesem Unterfangen höchstens Kalorien verbrennen würde, nicht mehr. Vom Laufen war mir ziemlich warm geworden, also breitete ich meine Jacke auf dem Boden aus, setzte mich darauf und schloss für einen Moment die Augen.


»Suchst du nach dem Hirsch? Er ist nicht mehr hier.« Ich stieß einen Schrei aus und wirbelte im Aufstehen herum. Tivon stand da, ganz lässig, als wäre nichts dabei, dass er auf einmal, mitten im Wald, hinter mir stand und Förster spielte. War er mir etwa gefolgt? Musste ich zu meiner warum-ich-noch-nie-eine-Beziehung-hatte-Liste jetzt auch noch »Pädophile« hinzufügen?

»Bist du verrückt? Was machst du hier? Wie hast du mich gefunden? Bist du mir hinter her gerannt? Warum hast du dich gestern neben mich gesetzt? Woher kennst du die Bedeutung meines Namens? Und was ist mit dem Hirsch? Und -« Plötzlich gingen mir die Fragen aus. Vor Wut und Verzweiflung bebend stand ich da und rang nach Luft.

»Um auf deine erste Frage zurück zu kommen«, sagte Tivon mit seelenruhiger Stimme, »nein, ich bin nicht verrückt. Du vielleicht?«

»Ich?« Was bildet der sich ein?

»Du sitzt im Winter ohne Jacke mutterseelenallein im Wald herum und tust gar nichts. Das wirkt doch irgendwie seltsam.«

»Ich war spazieren! Und du bist auch alleine hier!«, erwiderte ich. Tivon antwortete nicht und fuhr stattdessen fort:

»Was ich hier mache ist im Moment nicht von Belang, und dich zu finden wäre selbst für ein Kind nicht schwer gewesen, wenn man sich im Wald auskennt.« Ich war mir nicht sicher, ob das jetzt eine Beleidigung war oder nicht, also hielt ich besser den Mund. Trotzdem realisierte ich, dass er zwar redete, aber nicht wirklich Antworten gab. Das sollte ich mir merken.

»Was war das nächste… Warum ich mich gestern neben dich gesetzt habe? Ich wollte einfach nur mit dir reden, ich hoffe, das ist hier kein Kapitalverbrechen.« Ich blinzelte zu Boden. Nein, das war es wohl nicht. Die Frage hätte ich mir vermutlich sparen können, auch wenn es mir immer noch nicht ganz sauber vorkam.

»Und der Hirsch?«

»Suchst du ihn also? Er ist wirklich nicht mehr hier.«

»Ich habe zuerst gefragt!«, sträubte ich mich nach Grundschüler-Manier. »Nein, ich will wissen, was an ihm so besonders ist. Und woher du weißt, dass er nicht mehr hier ist.«

»Ich habe nie gesagt, dass er besonders ist«, antwortete Tivon. Ich hatte das Gefühl, dass ich auf den Boden stampfen und ihn anbrüllen müsste, aber ich versuchte, das bisschen Ruhe, dass noch irgendwo in mir wohnte, zu behalten.

»Und die zweite Frage? Und sag jetzt nicht, dass man ja eigentlich aus der Tatsache, die da besagt, dass man ihn gerade weder sehen noch hören noch sonstwas kann, folgern könnte, dass er sich nicht in der Nähe befindet; darauf bin ich auch schon gekommen!« Tivon warf mir einen belustigten Blick zu und deutete mit einer ausladenden Handbewegung nach Osten.

»Ich kann es dir zeigen, wenn du mitkommst.«

»Du spinnst doch! Ich werde nicht mit irgendeinem Fremden durch den Wald rennen, um bestenfalls eine Leiche bewundern zu dürfen!«

»Eine Leiche?«, erwiderte Tivon schockiert. »Nein, keine Leiche! Aber sag das nur nicht noch einmal.« Wow, der Junge konnte auch anders als amüsiert und gleichgültig reagieren. Wo ich das schon mal herausgefunden hatte konnte es mit der Fragestunde ja gleich weiter gehen:

»Was wäre so schlimm daran?« Tivon setzte einen bedauernden Gesichtsausdruck auf.

»Das kann ich dir nicht sagen, nur zeigen.«

»Na dann, sicher nicht. Am Ende modert hier ein ganz anderer toter Körper, nämlich meiner.« Ich versuchte, souverän und stark zu wirken, als ich hinzufügte: »Und jetzt lass mich vorbei!« Tivons Bedauern schien nicht, wie erwartet, von einer grässlichen Fratze, sondern von Traurigkeit abgelöst zu werden. Es schien ihn tatsächlich mit Kummer zu erfüllen.

»Natürlich«, sagte er mit leiser Stimme und trat zwei Schritte zur Seite. Diese plötzliche Stimmungsschwankung ließ mich zögern. Warum reagierte er so seltsam? Ich war kurz davor, meine Entscheidung zurückzunehmen, ehe sich die Vernunft meldete und mich dazu drängte, endlich aus diesem Wald zu verschwinden. Wie in Trance hob ich meine Jacke auf und ging an Tivon vorbei, ohne ihn anzublicken. Erst als ich an den ersten Bäumen vorbei gegangen war sah ich mich noch einmal um.

Tivon lief zum anderen Ende der Lichtung, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Seine Schritte waren langsam und schwerfällig, als trüge er eine große Last. Dieser Anblick setzte auf einmal eine Druckwelle aus Emotionen in mir frei, die wie tausende kleine Schmetterlinge durch meinen ganzen Körper raste.

»Tivon!« Meine Stimme schien durch den ganzen Wald zu hallen, auch wenn ich nur leise gerufen hatte. Ich rannte ihm, so schnell ich konnte, nach, während er sich verblüfft umdrehte.

»Was auch immer es ist«, japste ich, als ich bei ihm angekommen war, »bitte, zeig es mir.« Tivon strahlte auf einmal wie ein kleines Kind zum Geburtstag.

»Dann komm schnell!«, sagte er aufgeregt, fasste mich am Handgelenk und zog mich mit sich. Jedem anderen hätte ich vermutlich eine gescheuert, aber diese Situation konnte ich wohl schon seit einer ganzen Weile nicht mehr kontrollieren. Also ging ich, willig wie ein kleiner Hund, mit, und mühte mich damit ab, nicht zurück zu fallen.


Ich konnte nicht einschätzen, ob wir fünf Minuten oder eine halbe Stunde gelaufen waren, aber irgendwie schien es, als wäre meine Energie nicht zu erschöpfen. Und das lag sicher nicht daran, dass Tivon, der mein Handgelenk immer noch festhielt, mich ziemlich resolut mitzog – die meiste Arbeit erledigten immer noch meine eigenen Beine.

Plötzlich blieb Tivon stehen und ich rannte direkt in ihn hinein. Peinlich berührt biss ich mir auf die Lippe, aber er lachte nur und bedachte mich mit einem warmen Blick. Dann drehte er meinen Kopf etwas weiter rechts und rückte damit irgendetwas in mein Blickfeld, was ich nicht definieren konnte. Ein grünlich schimmerndes Oval hing buchstäblich in der Luft. Ich konnte dahinter nichts erkennen und sah nur die grünsilbernen Schlieren und Neben, die sich in verschlungenen Formen und Ornamenten durch das ganze Gebilde zogen. Ich konnte kaum in Worte fassen, was ich da sah, aber ich wusste sofort, dass das hier echt war.

»Die Pforte nach Melóviën«, sagte Tivon, der hinter mir stand, mit feierlicher Stimme. Ich drehte mich langsam zu ihm um.

»Die Pforte nach wohin?«

»Melóviën«, wiederholte Tivon und fügte lächelnd hinzu: »Meine Heimat.« Ich starrte Tivon an, als sei er ein geflügeltes Kaninchen.

»Deine… Deine Heimat? Du… kommst aus irgendeinem… rein theoretisch nicht existierendem Reich? Warte – bist du überhaupt ein Mensch?« Die letzte Frage entsprang einer plötzlichen Eingebung und machte mir zugegeben selbst Angst. Tivon legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. Vermutlich sah ich so aus, als würde ich gleich hyperventilieren.

»Nicht direkt. Jetzt, in diesem Moment, bin ich vielleicht in etwa wie ein Mensch. Das liegt daran, dass ich mich in deiner Welt befinde. Wir nennen sie Aláquinn.«

»Und… wer seid ihr? Und wieso bist du nur ›in etwa‹ wie ein Mensch?«

»Du kannst einer Katze die Gestalt eines Hundes geben, aber sie wird nie einer sein«, sagte Tivon. Er betrachtete mich einen Moment, als müsse erst prüfen, ob ich für die nächste Aussage noch standhaft genug war.

»Nein, ich bin kein Mensch. Ich wurde als Elf geboren.« Ich spürte, wie ich zu schwanken begann, und war ziemlich froh, dass Tivon seine Hand noch auf meiner Schulter hatte, mit der er mich jetzt einigermaßen fest hielt. Dennoch torkelte ich lieber zum nächsten Baum und lehnte mich gegen den Stamm. Meine Gedanken schienen auf einmal professionell Salsa zu tanzen, und vermutlich hatten auch meine zitternden Beine das vor. Ein Elf. Ein Elf? Oh mein Gott, da war ein Elf und eine Pforte in ein Elfenland! Oh Gott, oh Gott, oh GOTT! Ich hatte schon fast vergessen, dass ich gar nicht an irgendeinen Gott glaubte und schüttelte nur heftig den Kopf. Als würde das auch nur im Entferntesten irgendetwas nützen.

Tivon war neben mich getreten und schien nicht zu wissen, was er machen sollte. Ziemlich unentschlossen sah er zu mir herab und fummelte nervös am Reißverschluss seiner Jacke herum. Ich schluckte und kniff für fünf Sekunden die Augen zu. Dann öffnete ich sie wieder und schaute Tivon eindringlich an.

»Und du meinst das jetzt wirklich alles ernst.?« Tivon nickte, allem Anschein nach erleichtert, weil ich mich endlich wieder gefasst hatte.

»Oh Gott…«, stammelte ich ein letztes Mal, dann richtete ich mich, so gut es ging, wieder auf.

»Verzeih mir, normalerweise bin ich eigentlich nicht so seltsam.« Mein Blick wanderte wieder zu der Pforte.

»Kannst du mir jetzt sagen, was Melóviën ist? Und was das alles mit dem weißen Hirsch zu tun hat?« Tivon fuhr sich mit der Hand durch die Haare und trat von einem Fuß auf den anderen.

»Melóviën ist nicht so wie diese Welt. Es ist für gewöhnlich viel friedlicher, was daran liegen mag, dass wir von der Technik her etwa so weit fortgeschritten sind wie die Menschen im Mittelalter dieser Welt.«

»Wieso weißt du dann, wie man Bus fährt und wer Tschaikowsky ist und all das?«, unterbrach ich ihn.

»Warte einen Augenblick, ich kommen noch dazu«, sagte Tivon und fuhr fort: »Dennoch sind Elfen nicht so gewalttätig wie diese Leute. Keiner von uns würde es übers Herz bringen, einen der unseren oder ein unschuldiges Tier zu töten.« Mir lag schon die Frage, ob Elfen denn gar kein Fleisch aßen auf der Zunge, doch Tivon schien meiner Gedanken zu erraten.

»Nein, wir ernähren und vegetarisch, zum größten Teil auch vegan. Die Bienen geben uns Honig, wenn sie genug haben, aber Eier essen wir nicht, denn damit würden wir einem Küken, bevor es etwas dagegen tun kann, das Leben nehmen. Und auch Milch gibt es wenig, denn wir halten uns keine Tiere. Sie kommen zu uns, wenn es ihnen danach beliebt, aber wir zwingen sie nicht dazu und pferchen sie ein.« Ich schaute ihn bewundernd an. Vermutlich hätte ein normaler Mensch mir einen Vogel gezeigt, aber ich fand diese Harmonie zwischen den verschiedenen Wesen wundervoll.

»Wir haben einen König«, sagte Tivon, »aber er herrscht gerecht. Sicher besitzt er ein wenig mehr als andere und sein Palast ist groß und schön, aber jeder kann dort ein- und ausgehen und niemand hat zu wenig, um zu leben. Wir sind uns nicht so fremd geworden. Siehst du, kein Bewohner Melóviëns hätte sich gewundert, wenn ich mich neben ihn gesetzt hätte wie gestern neben dich.«Tivon seufzte. »Es gibt unendlich viele Unterschiede, die ich dir jetzt alle aufzählen könnte, aber es wäre besser, wenn du dir selbst ein Bild davon würdest.«

»Meinst du, ich kann da durch?«, sagte ich deutete mit dem Arm auf die Pforte.

»Ja, das kannst du. Ich wurde mit der Aufgabe betraut, dich dazu zu bewegen.«

»Du? Wieso ausgerechnet du? Bist du irgendwie… besonders?« Ich stockte und schaute ihn forschend an. »Und weshalb soll ich überhaupt nach Melóviën?«

»Das könnte ich mit der Frage verbinden, weshalb ich weiß, was ein Bus ist. Ich bin ein Lasçis.«

»Ein bitte was?« Tivon wiederholte das Wort und erklärte:

»Lasçis‘ sind in der Lage dazu, diese Pforte zu durchschreiten. Wenn sie in die jeweils andere Welt gelangen nehmen sie die Gestalt eines dort lebenden Menschen oder Elfen an. Diese ›Fähigkeit‹, wenn du so willst, ist angeboren, aber generell nur zu hundert Prozent vererbbar, wenn beide Eltern Lasçis‘ sind. Wenn ein Elternteil normal ist, dann liegt ist die Wahrscheinlichkeit bei 1:2, und selten bekommt ein vollständig normales Paar ein Lasçis.«

»Ist das bei mir der Fall? Ich kann mir kaum vorstellen, dass meine Mutter eine Elfe wäre, oder gar mein Vater.« Ich schwieg einen Moment. »Um genau zu sein weiß ich ja noch nicht mal, was ich mir unter einem Elf vorstellen soll.«

»Keine winzigen geflügelten Wesen, die von Blume zu Blume hüpfen und sie pflegen«, lachte Tivon. »Die gibt es auch, aber sie sind um einiges verspielter als wir, und sie kennen kein Leid und fürchten sich selten – weil sie Gefahr nicht erkennen, dazu sind sie viel zu naiv. Versuche niemals, dich mit einer Emívja – so nennen wir sie – ernsthaft zu unterhalten, sie wird dir nur unter Kichern irgendwelchen Schwachsinn erzählen. Das Einzige, was sie wirklich ernst nehmen, ist die Pflege ihrer Pflanzen, und das machen sie wirklich gewissenhaft. Einen besseren Gärtner kann man sich nicht wünschen.« Ich musste bei der Vorstellung schmunzeln, und außerdem erübrigte sich dabei die Frage, ob es in dieser Welt auch andere Wesen gab, die ich in mein Märchenbuch verbannt hätte.

»Aber um zu den Lasçis und mir zurück zu kommen: Ja, ich nehme an, dass deine Eltern diese Gabe nicht besitzen. Und ich bin oft nach Aláquinn gekommen, um eure Sitten und Umgangsformen zu erlernen. Die Aufgabe, dich her zu rufen, wurde mir auf erlegt, weil man du einem vierzigjährigen Mann sicher nicht gefolgt wärst.« Ich schüttelte vehement den Kopf.

»Ich habe ja dich schon für einen Pädophilen gehalten!«

»Danke!«, erwiderte Tivon grinsend. »Allerdings waren viele nicht mit dieser Entscheidung einverstanden. Einige der alten Fürsten hielten mich für viel zu unerfahren und protestierten heftig. Aber der Rat tagte nicht noch einmal und ich wurde ausgesandt.«

»Wie habt ihr mich denn überhaupt gefunden?«, fragte ich.

»Unser Olóhel, so etwas wie ein Seher, hat dich wahrgenommen.«

»Ihr habt einen Seher?« Tivon schüttelte traurig den Kopf.

»Ja, aber es ist eine schreckliche Gabe. Wenn eine Olóhel seine Fähigkeiten annimmt, erblindet er und ist auf die Hilfe anderer angewiesen. Es gibt nur wenige, die sich für diesen Weg entscheiden, aber manche alten Elfen schätzen dieses Wissen.«

»Aber warum muss man denn sein Augenlicht verlieren?«, fragte ich entsetzt.

»Damit man seine Gabe nicht alleine für sich nutzen kann. Das Gleichgewicht muss gewahrt werden.« Ich schluckte und wartete darauf, dass er weiter sprach.

»Wenn du nicht mit mir gekommen wärst, hätte ich mein Leben lang niemandem mehr in die Augen blicken können. Alle haben auf mich gehofft. Ich sollte dir unendlich dankbar sein, dass du mit mir gekommen bist.« Er lächelte mir zu, und mir wurde für einen Moment flau im Magen. Nicht, wie man jetzt wohl vermuten würde, weil er so schön lächelte, sondern weil er sich schon so sicher schien, dass ich diese Pforte durchtreten würde, ohne zu wissen, was genau mich da hinter erwarten würde und ob ich überhaupt zurückkehren könnte. Was, wenn ich ihm jetzt, wo er sich so glücklich wähnte, seine Illusion nehmen würde.

»Kann ich denn zurück?«, fragte ich vorsichtig. »Ich meine, ich kann jetzt nicht einfach jahrelang von hier verschwinden! Man wird mich suchen, polizeilich und alles! Und meine Mutter weiß, dass ich hier im Wald bin.«

»Natürlich kannst du zurückkehren«, sagte Tivon. »Ein Lasçis kann die Pforte jederzeit in beiden Richtungen durch schreiten.« Irgendwie sah ein Gesichtsausdruck dabei seltsam leer aus, aber als er mir einen Moment später schon wieder ein aufmunterndes Lächeln schenkte, war ich mir nicht sicher, ob ich es mir nicht nur eingebildet hatte.

»Dann eine letzte Frage«, hob ich an.

»Ich dachte schon, die würde nie kommen«, sagte Tivon lachend. Ich ignorierte ihn und sprach weiter:

»Eine Frage, die ich dir eigentlich schon gestellt habe: Was soll ich in Melóviën?« Tivon sah zu Boden.

»Es liegt nicht in meiner Macht, dir das zu sagen«, meinte er ausweichend.

»Tivooon«, quengelte ich.

»Ich darf das wirklich nicht sagen!«

»Erwarten diese Leute denn wirklich von mir, dass ich einfach in ihr Land komme, ohne dass ich weiß, was mich erwartet?« Tivons Augen weiteten sich erschrocken.

»Kommst du nicht nach Melóviën?« Jetzt tat er mir wieder genauso leid wie vorhin, als er so geknickt die Lichtung verlassen hatte.

»Naja… ich… schon, aber was, wenn das alles ganz anders ist? Wenn irgendwelche schlimmen Dinge passieren und ich auf einmal ganz alleine bin und mir niemand beisteht und dann sterbe ich und – was passiert denn überhaupt, wenn ich da sterbe? Bin ich dann auch hier tot? Wird man nicht mal meine Leiche finden? Ich -«

»Tajana!« Ich hielt in meinen schrecklichen Visionen inne und starrte Tivon an, der beschwichtigend die Hände in die Luft erhoben hatte.

»Niemand hat vor, dich alleine zu lassen«, sagte er.

»Sicher?« Tivon nahm wieder mein Handgelenk und zog mich zu der Pforte.

»Ich verspreche dir, dass ich dafür sorgen werde, dass immer irgendjemand bei dir sein wird – nicht zuletzt ich.« Ich starrte in die grün schimmernden Schlieren und nickte schließlich.

»Gut. Ich komme mit dir, wenn ich am Abend wieder nach Hause kommen darf.« Tivons Hand wanderte zu meiner und drückte sie einen Moment.

»Danke.« Dann bückte er sich und hob einen grauen Stoffballen auf, der mir bis eben gar nicht aufgefallen war. Als er ihn entfaltete erkannte ich, dass es sich um einen Umhang handelte.

»Was ist das?« Tivon räusperte sich und ich sah, dass die Röte in seine Wangen schoss.

»Wenn man Melóviën betritt, verschwinden alle Dinge, die man aus Aláquinn mitbringen könnte, und andersherum. Da du noch nie dort warst, wirst du, wenn du zum ersten Mal durch die Pforte trittst… nackt sein.« Ich starrte ihn erschrocken an.

»Dieser Umhang ist aus Melóviën«, fuhr Tivon schnell fort. »Es war mir möglich, ihn hierher zu bringen. Bist du etwas anders bekommst, wird er -«

»Jaja, ich weiß schon«, unterbrach ich ihn. Tivon legte mir den Umhang über die Schultern und ich band die Schnur um meinen Hals fest.

»Bist du bereit?« Ich nickte stumm.

»Wir werden auf dich aufpassen.« Mit diesen Worten fasste er meine Hand – tatsächlich, nicht mein Handgelenk – und trat zusammen mit mir einen Schritt nach vorne.