1. Kapitel

 

Endlich frei!

oder

Wie meine Freunde mich alle im Stich ließen

 

Natürlich wusste ich, dass Frau Habicht es nur gut mit uns meinte. Wie sollte ich denn auch durchs Leben kommen, wenn ich nicht wusste, wann genau dieses Gesetz erlassen wurde, was es besagte und wer alles dagegen war? Zweifellos würde mir das in vielen Situationen einen klaren Vorteil verschaffen. Ich stützte die Ellenbogen auf den Tisch und betrachtete gelangweilt meine Klassen- und Geschichtslehrerin, die mit weit ausholenden Armbewegungen von einem Massenprotest erzählte, der wohl vor etwa einem halben Jahrhundert stattgefunden hatte und außer Anna, die andauernd irgendwelche historischen Bücher von 1937 las, keinen zu interessieren schien.

Ich schweifte ab und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster. Eine saftig grüne Wiese neben unserem Sportplatz schien mir etwas zuzurufen: »Komm her, wälze dich im Gras, genieße den Duft der Blumen und fühle dich frei!« Ich seufzte. Anstatt draußen das wunderbare Wetter zu genießen saß ich in unserem stickigen Klassenraum in der obersten Etage und würde bald wegen Überhitzung verenden.

»Alicia! Was habe ich gerade gesagt?«, zerriss eine scharfe Stimme meine kleine Traumwelt.

»Äh… was?« Ich blickte auf und wurde sofort von zwei gelben Augen durchbohrt. Jedes Mal, wenn ich Frau Habicht sah, konnte ich nur staunen, wie ausgenommen gut ihr Name doch zu ihr passte: Die runden, bernsteinfarbenen Augen, die spitze lange Nase, das –

»Alicia! Muss ich mich wiederholen? Was habe ich gesagt?« Wie ich diese Frage hasste! Man sollte meinen, die Lehrer dächten sich mal etwas Neues aus, aber ich war mir sicher, dass Schüler mit diesem Satz schon seit Platons Zeiten gequält wurden.

»Also… Die Bevölkerung fühlte sich wegen dem Gesetz gedemütigt und hat deswegen dagegen protestiert. Als dann - «

»Haben Sie überhaupt einmal aufgepasst?«, wurde ich von Frau Habicht unterbrochen. »Mit diesem Thema haben wir so eben abgeschlossen.« Sie stolzierte zu unserem Tisch und inspizierte meinen Hefter. »Kein Wort mitgeschrieben? Nicht einmal in dieser letzten Stunde können Sie sich konzentrieren?« Ich blickte sie fassungslos an. Gerade deswegen konnte ich mich nicht konzentrieren! Die letzte Schulstunde vor den Sommerferien! Wie konnte sie denn da von mir erwarten, dass ich auf einmal mit größtem Eifer dabei war, um meine Mitarbeitsnote in letzter Sekunde von 4 auf 1 zu verbessern – wenn nicht schon vor zwei Wochen Zensurenschluss gewesen wäre?

Während Frau Habicht wieder zu ihrem Tisch stelzte, schielte ich auf Katis Uhr. Es war kurz vor halb 11. In einer knappen Viertelstunde war die Stunde vorbei! Die Letzte!

»Ich dachte, Sie fänden es vielleicht interessant, wenn wir, wo wir doch den Lehrplan zu Genüge abgearbeitet haben, uns mit einigen anderen Dingen beschäftigen, die von weniger großer Bedeutung sind. Aber da hier anscheinend ohnehin niemand mehr zuhört - « Frau Habicht warf mir einen gepfefferten Blick zu, und ich hatte Mühe, ihr nicht mit einem strahlenden Lächeln zu antworten, »werde ich die Geschichtsstunde jetzt beenden. Da wir vor Stundenbeginn schon alles besprochen haben bekommen Sie unverzüglich Ihre Zeugnisse.« Mit undefinierbarer Miene holte sie eine dunkle Mappe aus ihrer Tasche, zog einen Stapel Blätter heraus und begann, durch die Reihen zu laufen. Da sie streng nach Alphabet vorging begannen meine Hände leicht zu zittern, als sie Lara das dreizehnte Dokument in die Hand drückte, denn nun kam sie auf mich zu. Erst kurz vor uns machte sie halt und hielt mir mit der Andeutung eines Lächelns, das mir irgendwie nicht gerade glücklich vorkam, die Produkte meiner Arbeit vor die Nase. Ich streckte die Hand aus und zog es schnell an mich, bevor noch irgendein Kommentar folgen konnte, doch sie nickte nur, murmelte ein »Herzlichen Glückwunsch!« und machte sich zur ersten Reihe auf.

Kati zupfte an einer Ecke.

»Zeig her!«, wisperte sie. Ich ließ das Blatt vorsichtig vor mir auf den Tisch sinken. Naja. Durchschnitt. Eigentlich mein Halbjahreszeugnis ohne Drei in Info. Und eine Eins in Musik, die gute Frau!

»Hey, ist doch super!«, meine Kati und warf einen Blick auf Frau Habichts Stapel. »Ich will meins gar nicht sehen...«

Ich kicherte. »Wenn du deinen Pessimismus mal eben vergessen würdest, dann fiele dir ein, dass du nach Anna Klassenbeste bist!«

Meine Freundin lachte mit. »Ich wollte ja bloß nochmal bestätigt haben, wie toll ich bin«, antwortete sie mit gespielt hochnäsiger Stimme, verstummte aber, als Frau Habicht erschien, um ihr ihr Zeugnis auszuhändigen.

»Sehr schön«, sagte sie etwas lauter, wahrscheinlich, damit sich die ganze Klasse jetzt ein Beispiel nahm und die Ferien hindurch eifrig lernte. »Ihre Bemühungen tragen Früchte!«

Kaum hatte sie sich abgewandt riss ich Kati das Blatt nahezu aus den Händen, was sie kaum zu stören schien. »Sieben Einsen?«, meinte ich anerkennend. »Oh, ich meine Acht, in Chemie hast du auch noch eine! Und keine einzige drei! Möchtest du mir vielleicht Nachhilfe geben?« Katis Gesicht wirkte wie versteinert.

»Ist was?«, fragte ich leicht besorgt. Kati öffnete den Mund, klappte ihn wieder zu, öffnete ihn erneut.

»Wieso hat die mir in Geschichte einen Zwei gegeben?«, fluchte sie plötzlich. »So ein Mist! Ich hätte schwören können, dass ich eine Eins bekomme!« Ich schielte zu ihr hinüber und setzte eine tragische Miene auf.

»Ich fürchte, so wird das nie was mit Ihnen werden, Katharina«, näselte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Eine Zwei in Geschichte! Das ist un-ver-zeih-lich!« Ich betonte jede Silbe mit besonderem Nachdruck, und Kati sah so aus, als wolle sie mir die Beine ausreißen. Ich lächelte sie schief an.

»Jeder normale Mensch freut sich über eine Zwei in Geschichte. Was macht das schon aus?«

»Anna hätte sich auch geärgert!«

»Ich sprach von normalen Menschen«, bemerkte ich. »Und hey, wir haben trotzdem Sommerferien! Jetzt! Sofort! In zwei Minuten sind wir draußen, die Sonne scheint, das Leben wartet und du wirst dein Buch sechseinhalb Wochen lang im Schrank modern lassen! Freu dich, lächle, genieße dein Leben! Und vergiss nie: - «

»Carpe Diem!«, vollendete Kati meinen Satz. »Ich weiß. Nutze den Tag, lebe den Augenblick, geh deinen eigenen Weg. Als würdest du mir dein Lebensmotto nicht täglich dreimal vorkauen.« Sie hob den Blick und lächelte. »Aber vielleicht sollte ich ausnahmsweise ja auch mal versuchen, mehr oder weniger danach zu leben.« Gut, das klang ein bisschen zaghaft, aber ich grinste und legte mein Zeugnis ungeduldig in die weinrote Mappe, die ich bestenfalls in den nächsten zwei Stunden aus meinem Blickfeld in ein Regal voller Urkundenordner befördern würde.

Frau Habicht kehrte währenddessen an ihren Platz zurück. »Ich habe schon alles gesagt, was für Sie in Ihren freien Tagen wichtig ist. Erscheinen Sie am ersten Schultag bitte pünktlich, so dass Sie sich um acht Uhr in Ihrem Klassenraum befinden. Ich wünsche Ihnen schöne Ferien und gute Erholung.« Als sie verstummte blieb es für einen Moment still. Erst als unsere Lehrerin nach ihrer schicken Designertasche griff und sie sich über die Schulter hängte kam Bewegung in die Klasse. Die meisten Schüler hatten eh schon wie auf glühenden Kohlen gesessen und sprangen nun so schnell auf, dass man meinen könnte, sie würden von Wespen gejagt werden. Kati und ich rappelten und gemächlich auf und warteten noch auf Amelie und Lea, die sich gerade von der letzten Reihe zu uns gesellten.

»Wir diskutieren unsere Zeugnisse draußen aus!«, bemerkte Lea, bevor irgendjemand anderes das Wort ergreifen konnte und fügte mit gedämpfter Stimme hinzu: »Ehe sie mir wieder diesen verstaubten Nachhilfelehrer namens ›Mein Bruder‹ empfiehlt, mit dem ich mich über Croissants und wie man sie zu backen hat unterhalten kann.« Lea war ein richtiges Energiebündel, wie man es aus Filmen kennt – nur dass sie echt war. Ständig in Fahrt, den Kopf voll mit den seltsamsten Ideen, und ab und zu hatte ich das Gefühl, sie könne an zwei Orten gleichzeitig sein. Das lag allerdings auch nur daran, dass sie normalerweise keine Minute stillsaß und immer von hier nach dort wirbelte. Selbst beim Fahrradfahren kurvte sie meist im Slalom um uns herum.

Nun fasste sie Amelie an einem, mich am anderen Arm, und da ich mich gerade bei Kati eingehakt hatte zog sie uns kurzerhand aus dem Raum.

»Auf Wiedersehen, Frau Habicht!«, riefen wir im Chor und ließen sie rasch hinter uns, um vor irgendwelchen Warnungen verschont zu bleiben. Man konnte Frau Habicht nicht gerade fürsorglich nennen, aber sie war mit sämtlichen Gefahren der Umgebung vertraut: Diese reichten vom Ertrinken im kleinen Tümpel über einen Amok-Lauf bis zum Hinunterfallen vom Kirchturm und machten Exkursionen, die den Schulalltag ja eigentlich auflockern sollten, ziemlich trist; immerhin könnte ja jederzeit ein Mörder aus der Litfaßsäule hervorspringen und einen ahnungslosen Schüler meucheln.

»Schöne Ferien!«, ergänzte Kati noch, dann verschwanden wir schon um die Ecke.

Bis wir alle Treppen und Korridore unsere Schule passiert hatten, redete keiner ein Wort. Eine feierliche, wenn euch etwas lächerliche Stille lag um uns herum, die erst gebrochen wurde, als wir auf dem Schulhof waren und die frische Luft unsere Gemüter erweckte.

»Wir sind fra-hei!«, jubelte Lea und führte einen kleinen Freudentanz auf. Unwillkürlich sah ich mich um. Ich hatte ohnehin schon die Gewissheit, dass alle Leute, die wir nicht aus unserem Jahrgang kannten, uns für verrückt hielten, aber es konnte ja auch nicht schaden, ab und an auf seinen Ruf zu achten.

Allerdings schien es, als sei Frau Habicht mal wieder die Letzte gewesen, die ihre Schüler entlassen hatte, denn die meisten Jugendlichen hatten sich schon längst vom Acker gemacht, um ihre freie Zeit auszukosten. Kati schlug vor, in den Stadt-Park nahe der Schule zu gehen, und nach kurzer Zeit hockten wir nebeneinander auf unserer angestammten Bank unter einer großen Kastanie und studierten gegenseitig unsere Zeugnisse. Nicht dass es je etwas Neues geben würde, Kati war die Beste, Amelie und ich die Durchschnittskinder und Lea...

»Immerhin habe ich zwischendurch meine Leben genossen!«, erklärte sie kurzerhand. »Und mal ganz ehrlich: Als Bühnengestalterin muss ich ja wohl kein Chemie können!« Ich kicherte. Chemie war schon mein Problemfach, aber Lea hatte es tatsächlich geschafft, mich mit einer Vier zu übertreffen.

Nachdem wir unsere Noten bis ins kleinste Detail ausdiskutiert hatten – vor allem die Geschichtszwei, Kati stimmte nun endlich meinen bis ins Detail ausgefeiltem Plan zu, der Frau Habicht in einer Wasserflasche ertrinken ließ – quatschen wir einfach weiter, bis das Gespräch immer lahmer wurde. Amelie beendete unser Gespräch übers Wetter schließlich, indem sie auf ihr Handy blickte und traurig das Gesicht verzog.

»Ich muss los. Papa kommt gleich und wir brechen dann auf.« Wir schwiegen alle kurz und schauten einander an, bis Lea die Stille zerbrach und sich von der Bank erhob.

»Dann gehen wir alle«, entschied sie. Wir lagen uns noch eine Ewigkeit in den Armen, seufzten, versprachen, zu telefonieren und zu schreiben und konnten uns kaum voneinander lösen. So zogen wir zu den Fahrradständern los, durcheinander redend und gefangen in einer Mischung aus Melancholie und der Vorfreude auf die Ferien.

Nach einem letzten Abschied schwangen wir uns auf unsere Fahrräder und fuhren in alle Himmelsrichtungen davon. Während ich die Straße hinauf radelte beobachtete ich die Leute. Das gehörte, seit ich nicht mehr mit meiner Grundschulfreundin nach Hause fuhr, zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, denn fast täglich konnte man direkt vor seiner Nase Kuriositäten beobachten. Eine alte Dame, die so beschwingt aus der Gärtnerei kam, dass man sie mit zusammengekniffenen Augen für einen verliebten Teenager halten konnte, eine auf den ersten Blick unscheinbare Frau mit einem Gesicht von unbekannter Schönheit, der seltsame, schwarz gekleidete Mann, der immer bei den Blumenkübeln herumlungerte oder der kleine Junge, der sich, wenn seine Mutter sich den Schaufenstern zu wandte, ab und zu einfach auf dem Rasenstreifen niederließ und aus purer Freude einen Purzelbaum schlug. Ihn sah ich heute wieder, aber »Mami« hatte es anscheinend eilig und zog ihn schnell fort. Dafür sah ich eine Frau im edlen Kostüm, die mit ihrem Chihuahua spazieren ging. Die beiden waren farblich aufeinander abgestimmt – cremeweißer Hosenanzug sowie Pelz – und wirkten so, als wären sie soeben einem hübschen Schlösschen entstiegen. Es würde mich wirklich nicht wundern, wenn sie den Namen Edeltraud von und zu Waldesgrün trüge und der Hund Franz Wilhelm der Prächtige hieß, doch ehe ich mich versah waren die beiden in einem der Edelcafés verschwunden und ich hatte Mühe damit, meinen Lenker noch so herumzureißen, dass ich nicht gegen einen Mülleimer fuhr. Ich hatte schon früh bemerkt, dass ich für ernsthafte Verletzungen keine Extremsportarten nötig hatte. Ich brauchte bloß mit unverschämter Intensität Leute anzuglotzen.

Da ich mich aber im Moment im Ganzen benötigte konzentrierte ich mich auf den Weg vor mir und bog schließlich in einen schmalen Pfad ein, der zu unserem Haus führte. Auf der anderen Seite gab es auch eine größere, asphaltierte Einfahrt, aber durch unseren wild wuchernden und doch gepflegt aussehenden Märchengarten sparte man gut 400 Meter. Schon von weitem sah ich meinen kleinen Bruder Niklas, der in seinem Baumhaus saß und wahrscheinlich Pirat oder irgendsowas in der Art spielte. Das, was kleine Jungs von knapp vier Jahren eben toll finden. Ich beschloss, einfach an ihm vorbei zu fahren, aber natürlich misslang mein Plan.

»Licia!«, brüllte er. »Licia! Ich bin ein Ninja!« Immerhin, Pirat war doch schon nah dran.

»Und ich bin ein böser, böser Samurai-Krieger, der kleine Ninjas aus ihren Verstecken zieht und in den Karpfen-Teich wirft!«, schrie ich zurück. Meistens ließ Niklas einen nicht eher in Ruhe, bis man seinen Fantasien ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

»Gar nicht!«, erwiderte Niklas. »Das kriegst du nicht hin! Ich bin ein Ninja!« Ich stieg von meinem Fahrrad ab und tat so, als suche ich etwas an meinem Gürtel.

»Oh nein!«, fluchte ich laut. »Da hab ich doch tatsächlich mein Schwert vergessen. Dann hab ich ja gar keine Chance gegen den Ninja!« Niklas sprang wie erwünscht darauf an:

»Ha, das habe ich gehört! Jetzt kann greif ich dich an!«

»Oh weh, ich muss schnell weg und mich verstecken!«, antwortete ich mit gespielt geweiteten Augen und griff nach meinem Fahrrad. Ehe Niklas auf die Idee kommen würde, dass er mir gerade gar nicht mal so sehr eins ausgewischt hatte, wie er dachte, würde ich schon weg sein.

Ich fuhr um die letzte Kurve und steuerte mein Fahrrad zu unserem kleinen Schuppen. Dort lehnte ich es gegen die Wand, rannte die Treppe zur Haustür hinauf und stürmte in die Küche. Meine Mutter saß an unserem alten Holztisch und fertigte Bleistiftskizzen an. Als sie mich kommen hörte, hob sie den Kopf.

»Schätzchen, da bist du ja!« Ich lächelte schwach und lehnte meinen Rucksack gegen eines der Tischbeine. Dann ließ ich mich auf den zweiten Stuhl fallen und kramte die Mappe heraus.

»Es ist besser als das Halbjahreszeugnis«, sagte ich. Minimal. Sie nickte zufrieden und studierte meine Noten.

»Wunderbar, Schatz. Ich wusste doch, dass du die Zwei in Informatik schaffst.«

»Ich bin trotzdem froh, dass ich es nächstes Jahr nicht mehr machen muss. Das Einzige, was mich an meinem Computer wirklich interessiert sind die«, ich imitierte Papas Stimme, »›Sozialen Netzwerke‹.« Wir mussten beide lachen. Mein Vater nahm einfach keine neuen Wörter in den Mund, und wenn er es doch tat, klang es wie die lateinische Bezeichnung für ›geschlechtsumgewandelte Selleriesoße‹. Falls es damals schon sowas wie Geschlechtsumwandlungen und Selleriesoße gab.

»Ich habe dich eigentlich schon früher erwartet, hat Frau Habicht mal wieder länger gemacht?« Ich nickte, ohne zu erwähnen, dass ich mich noch von meinen Freunden hatte verabschieden müssen. Während Mama vor sich hin summte, versuchte ich, meine Gedanken in Zaum zu halten – Gedanken, die mich auslachten und mir mitten zwischen einigen gehässigen Kicheranfällen erklärten, dass ich die Ferien ohne meine Freundinnen verbringen würde. Weil alle drei heute und morgen losfuhren: Kati nach Österreich in ein Wellness-Hotel, Lea zu ihrer Pferde-Oma und Amelie in ein Sprachcamp. Und ich würde höchstens mal einen Tag einen langweiligen kleinen Ausflug machen, weil mein Vater gerade an einem Projekt arbeitete, von dem er sich absolut nicht trennen konnte. »In den Herbstferien machen wir dann auf jeden Fall was!«, hatte er versprochen. In den Herbstferien, großartig, da kann ich mich auch mit den anderen treffen. In meinem schlechte-Laune-Anfall hatte ich auch das Jugendcamp im Dorf um die Ecke abgelehnt, da ich weder Fan von neue-Freundschaften-schließen noch von Komm-wir-schreiben-eine-Szene-suchen-uns-peinliche-Kostüme-und-spielen-das-dann-den-anderen-Gruppen-vor war. Anscheinend war ich kein besonders kommunikativer Mensch, aber wenn irgendwas nach wertvoller Pädagogik roch und für Teenager war, hielt ich meistens erst mal Abstand und begutachtete das Ganze.

Teenager wurden immer so falsch eingeschätzt... Man könnte meinen, alle, die mindestens zwölf sind, würden rauchen, trinken, Drogen nehmen, alle zwei Wochen billige Partys besuchen und tagein tagaus ihr langweiliges Mainstream-Leben in ihrem facebook-Tagebuch niederschreiben und mit Bildern ihrer verpixelten Handykamera illustrieren. Teenager konnten weder lesen noch irgendwelche anderen ruhigen oder intellektuellen Dinge tun, denn sie befanden sich in einer rebellischen Phase und mussten sich erst selbst finden. Als Elternteil möge man das verstehen und ein Buch über schwierige Menschen und wie man mit ihenn umgehen soll lesen.

Das einzig Gute an diesen Ferien war, dass Mama mit Nicky und ihrer Malerei sicher völlig ausgelastet sein würde und so keine Zeit hatte, in der sie mich betütteln konnte und dabei am besten noch zum Sandburgenbauen einlud. Und trotzdem war es eine Gemeinheit. Ich tigerte im Zimmer auf und ab und stellte mich schließlich auf den Balkon. Eine sanfte Brise fuhr mir in die Haare und besänftigte mich ein wenig.

Vor mir lagen sechs ungenutzt Wochen, und ich würde das Beste daraus machen, auch, wenn ich auf mich allein gestellt war. Vielleicht war die Zeit, die ich nun für mich hatte, auch ein Geschenk, das ich nutzen sollte, anstatt mein Schicksal zu bejammern. Gelöst von diesem ganzen Schwachsinn...

Ich war endlich frei!