2. Kapitel

 

Zeitsprünge

oder

Wie ich den Kontinent Aferli erfand und den Namen Niklas annahm

 

Meine Motivation nahm langsam, aber stetig ab, da ich keine Ahnung hatte, wie ich meine Zeit nutzen konnte.

»Was soll ich machen?«, quengelte ich nun bestimmt schon zum fünften Mal. Mama ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und konzentrierte sich darauf, die Skizzen, die sie vorhin angefertigt hatte, zu verwirklichen. Auf der Leinwand konnte man schon deutlich die Umrisse einer Frau erkennen, die zusammengesunken in den Armen eines Mannes lag. Sie hatte eine hoffnungslos romantische Ader, und ich flehte jedes Mal, wenn sie bei ihr durchkam, dass dieser Charakterzug bei mir nicht ganz so ausgeprägt war.

»Warum malst du nicht auch?«

»Neben deinem Bild wäre das ganz schön demütigend.«

»Dann mal mit Nicky!«

»Das würde Nicky demütigen.«

»Ach, dann geh doch einfach raus und lies ein Buch.« Ich überlegte kurz, aber da mir tatsächlich nichts anderes einfiel, sprang ich auf. Lesen gehörte zu jenen Dingen, die ich eigentlich immer tun konnte. Wenn mir sehr langweilig war, las ich drei oder vier Bücher am Tag, ohne dass ich mich in irgendeiner Weise nach Abwechslung sehnte. Ein Buch gab mir immer die Möglichkeit, in eine andere, fantastische Welt zu schlüpfen, und auch wenn ich meine Lieblingswerke schon zehn Mal durchgeblättert hatte, so erfreute ich mich immer wieder daran. Es kam schon vor, dass ich am Ende eines Buches Tränen in meinen Augen fühlte, weil ich die Figuren noch nicht gehen lassen wollte, weil ich mir wünschte, sie bei mir behalten zu können. Das endete meist damit, dass ich mir abends im Bett solange Geschichten darüber ausspann, wie ich in der Erzählung landen könnte oder wie sie weiterging, dass ich meist gar nicht zum Ende kam, weil der Schlaf mich überwältigte. In meinem Kopf waren bestimmt schon hunderte Geschichten entstanden, die so vergänglich waren wie neue Smartphones – in zwei Tagen waren sie schon übertrumpft und vergessen.

Ich trottete in mein Zimmer und postierte mich vor dem Bücherregal, wo ich meinen Finger über die Buchrücken streifen ließ, bis ich bei einem schlichten gelbbraunen Band stockte. Robinson Crusoe. Ich überlegte kurz, dann zog ich es heraus. Das letzte Mal musste ich es ein paar Wochen vor Weihnachten gelesen haben, das war eindeutig genug. Außerdem liebte ich die Geschichte von jenem, der gar nichts hatte und sich dennoch nach und nach eine königliche Existenz aufbaute.

Ich verließ mein Zimmer, schloss vorsorglich die Tür und ging die Treppe hinunter in den Flur.

»Bis später!«, rief ich, während ich auf einem Bein durch die Tür hüpfte, das andere noch erhoben, um irgendwie den Schuh über meinen Fuß zu streifen.

Während ich die Straßen hinab trödelte dachte ich darüber nach, dass mein Leben bis jetzt nicht wirklich aufregend gewesen war. Natürlich, ich hatte Vieles erlebt, aber irgendwie war alles so… gewöhnlich. Was wäre, wenn ich mich an eine Tür lehnen würde, die plötzlich aufginge, und ein Dieb herausschlüpfen würde? Und dahinter natürlich noch ein gutaussehender Typ, der ihn verfolgt und nun aber leider mich auffangen muss. Ja, da war sie doch, die romantische Ader. Seufzend vergewisserte ich mich, dass wirklich alles seinen gewohnten Lauf nahm und beschloss, diese Gedanken bis zum Schlafengehen zu verbannen.

Nach einiger Zeit verstummte der Straßenlärm und ich fand mich auf einem alten Spielplatz wieder. Seit die Stadt in der Reihenhaussiedlung einen neuen gebaut hatte, mit einer großen Schaukel und irgendwelchen Netzen, kam hier keiner mehr hin. Die Gerüste bestanden nur noch aus teilweise brüchigem Holz und es wurde schon ein paar Mal über den Abriss diskutiert. Man hatte das Projekt aber immer wieder fallen gelassen, vermutlich aus finanziellen Gründen.

Und das war nur zu meinem Glück. Ich kam oft hierher und versteckte mich in dem kleinen Häuschen ganz oben, wenn die Sonne brannte und ich ein bisschen Schatten brauchte. Es war eigentlich gebaut wie ein Baumhaus, mit einem Loch unten und einem kleinen Fenster an der Westseite. Man erreichte es nur, wenn man zuerst auf eine Plattform kletterte und sich dann eine Strickleiter hochhangelte. Mit der Zeit hatten die Strapazen, die die vielen Kinder mit sich brachten, dem Seil ordentlich zugesetzt, denn solange ich denken konnte, fehlte der untere Teil. Die erste Sprosse war nun ungefähr auf Bauchhöhe, aber wenn man sich keinen Minirock angetan hatte, traten hier keine Probleme auf. Im Gegenteil, man war sogar vor nervigen kleinen Gören geschützt, die ab und zu noch hier her kamen.

Als ich nur noch einige Meter von der ersten Plattform entfernt war, beschleunigte ich meine Schritte und sprang mit einem großen Satz hinauf. Anfangs hatte ich mich das nie getraut, aber inzwischen war es schon fast zur Routine geworden. Von dort zog ich mich an der Leiter nach oben und machte es mir in einer Ecke gemütlich. Die Sonne stand noch so hoch, dass sie nicht hereinscheinen konnte, aber ihre Hitze war dennoch überall zu spüren.

In den nächsten Stunden versank ich ganz und gar in einer anderen Welt. Ich rettete mit Robinson alle Dinge vom Schiff, fing mit ihm Ziegen – ob er wirklich mit ihnen getanzt hatte? – und konnte den Schuss, der Freitag vor den Kannibalen rettete, fast hören. Gerade, als dieser seinen Vater erkannte, wurden unten Stimmen laut.

»Ist da jemand?« Na, da waren sie doch, die kleinen coolen Jungs. Nein, hier ist keiner, ihr könnt wieder gehen!

»Ja, ich hab was gehört!« Ein Scharren ertönte, und ich konnte schon am Gewackel des alten Gerüsts spüren, dass jemand sich gerade über das Netz auf die erste Plattform hangelte. Ich klappte verärgert mein Buch zu und richtete mich auf. Letztes Mal hatten sie von unten die ganze Zeit irgendwelche belanglosen Fragen gestellt, rumgekräht und mit allen Mitteln versucht, mich zu nerven, und so sehr ich auch versucht hatte, sie zu ignorieren, lesen kann man bei dieser Geräuschkulisse einfach nicht.

So leise wie möglich legte ich mein Gesicht an den Boden und schielte durch ein kleines Astloch. Drei Jungen standen dort, inzwischen auf der ersten Ebene. Und sie standen genau so, dass sie die dicken Äste der Eiche, die durch das Fenster ins Häuschen ragten, nicht sehen konnten. Mit einem triumphierenden Lächeln richtete ich mich auf und quetschte mich vorsichtig durch das Fenster, das schmale Buch zwischen die Lippen gepresst. Über dem Dach wuchs ein breiter Ast, an dem ich mich, behände wie ein Äffchen, festhielt. Als ich dort hing konnte ich meine Füße zu einem weiteren Ast schwingen, von dem ich bis zum mächtigen Stamm balancierte.

Ich liebte diesen Baum. Von unten konnte man ihn kaum erklettern, weil die ersten Äste sich erst in einer Höhe von gut zweieinhalb Metern vom Stamm wegspreizten, aber von dort aus wuchsen sie regelmäßig und fast horizontal hervor. Das dichte Blattwerk strahlte Geborgenheit und Schutz aus und es wunderte mich, dass ich bis jetzt noch niemanden hier gesehen hatte.

Während die Kinder noch vor sich hin meckerten – inzwischen hatten sie wohl gemerkt, dass das Häuschen doch leerer war, als sie gedacht hatten – kletterte ich weiter nach oben, bis ich zu einer breiten Astgabel kam, in der man bequem sitzen konnte. Ich wollte mich gerade darauf niederlassen, als vor meinen Augen auf einmal alles verschwamm. Das Letzte, was ich noch realisierte, waren meine Hände, die sich krampfhaft in die raue Rinde des Stammes krallten.

 

Als ich die Augen öffnete war das Erste, was fehlte, die pingelig angepflanzte Baumreihe, die am Ende des Parks wuchs. Stattdessen lag vor mir eine vertrocknete, endlos weite Graslandschaft, die von vereinzelten dürren Bäumen geziert wurde. Und irgendwie war auch der Baum, auf dem ich gerade kauerte, viel schmaler als die Eiche, auf der ich mich eben noch befunden hatte. Allerdings sagten mir die kleinen Blätter, dass es sich noch immer um dieselbe Baumart handelte – vielleicht sogar um dasselbe Gewächs?

Ich kniff für fünf Sekunden die Augen zusammen und öffnete sie dann wieder.

Alles sah genauso aus wie davor. Weite kahle Fläche, langes, sich im Wind wiegendes Gras, das dringend einen Gartenschlauch benötigte und verkrüppelte Äste. Außerdem lag vor mir ein breiter Trampelpfad, der aber verlassen war.

Es erstaunte mich, dass ich so gelassen reagierte, denn seltsamerweise erfasste mich weder Panik noch irgendein anderes Gefühl, das vielleicht angebracht gewesen wäre. Ich saß plötzlich mitten in der Pampa, obwohl ich mich vor ein paar Sekunden – waren es Sekunden gewesen? Wie viel Zeit war eigentlich vergangen? – noch in einem Park befunden hatte. Konnte man das ganz rational und logisch erklären? Ich versuchte, mich an die letzten Sekunden vor dem Blackout zu erinnern. Alles hatte auf einmal so ausgesehen, als hätte es jemand durch ein Grafikprogramm gejagt und weichgezeichnet, die Konturen waren alle verschwommen… Hatte man mich vielleicht betäubt? Mit einem Pfeil? Nein, ich hatte nichts gespürt. Irgendwelche Dämpfe? Konnte ich mir eigentlich auch nicht vorstellen, vor allem, weil ich ja so weit oben gesessen hatte; das hätte man dann schon mit einem Ventilator bewerkstelligen müssen. Warum überhaupt betäuben? Warum betäubt man Personen denn? Um sie zu entführen? Ich sah mich nochmal gründlich um, aber hier war wirklich niemand. Was für einen Sinn hätte es also, mich zu betäuben, wenn man mich dann einfach nur ins Nirgendwo bugsierte? Gar keinen, eigentlich. Ich konnte ja jederzeit zurück, wenn ich den Weg fand. Also sollte ich vielleicht eine Stadt suchen, um heraus zu finden, wo ich mich befand.

Ich lächelte angesichts meines Plans zufrieden vor mich hin, ehe mir der Haken an der Sache auffiel: Wo sollte ich bitte eine Stadt herbekommen? Einfach den Trampelpfad entlang zu marschieren war natürlich eine schöne Sache, aber wer wusste schon, wo ich dann rauskam und ob ich dabei überhaupt irgendwo hingelangen würde? Ein Trampelpfad war nun mal nur ein Trampelpfad. Ich seufzte und beschloss, mich trotzdem auf den Weg zu machen. Als ich erst einen knappen Meter hinab geklettert war erblickte ich auf einmal eine Staubwolke, die rasch auf mich zukam. Ein Auto! Klasse! Ich versuchte, schneller hinab zu klettern, aber irgendwie näherte sich das Gefährt viel zu schnell und ich kletterte zu langsam. Und als es sich auf hundert Meter genähert hatte und ich zufällig noch mal herüber blickte, sah ich, dass da gar kein Auto war, sondern ein Pferd! Ein Pferd, das einen Wagen zog, auf dem ein einzelner Mann saß. Verblüfft blieb ich, wo ich war. Was machte der denn hier ganz alleine? War ich auf Hiddensee gelandet? Der Wagen kam immer näher, und gerade, als ich dem Lenker etwas zurufen wollte, kam er zum Stehen.

»He, Bursche! Was machst du da?« Bursche? Bursche? Was bildete dieser ungehobelte Schmarotzer sich denn ein? Ehe ich antworten konnte, ertönte seine Stimme erneut, diesmal mit einem schneidenden Unterton:

»Bist du etwa ein Späher?« Ein Späher? Hatte der nicht mehr alle Tassen im Schrank? Ja, ich bin vom amerikanischen Geheimdienst und beobachte als studierte Ornithologin in menschenverlassenen Gegenden das Verhalten von Vögeln! Was ich dir jetzt natürlich nicht unter die Nase binden werde, denn meine Mission ist streng geheim und meine Forschungsergebnisse dürfen unter keinen Umständen in falsche Hände gelangen!

»Ich bin keiner Späher!«, rief ich hinab.

»Was tust du dann in dem Baum?« Wenn ich jetzt sagte, dass ich vor ein paar Lausebengel aus dem Häuschen vertrieben wurde, hätte ich bestimmt eine Gummizelle gut. Da mir erst mal nichts einfiel, kletterte ich einfach ein Stück weiter runter, bis ich den Mann sehen konnte. Und in diesem Augenblick kam mir die ganze Sache dann doch ein bisschen spanisch vor. Beziehungsweise mittelalterlich. Der Typ trug nämlich ein Teil, dass ich als Wams interpretieren würde, darunter ein lockeres weißes Leinenhemd und eine ziemlich robust aussehende Hose aus einem noch nicht definierten Stoff. Gut, dass es keine Strumpfhose war, sonst hätte ich mir das Lachen wohl nicht verkneifen können, was schon angesichts seiner seltsamen Kopfbedeckung meine gesamte Konzentration erforderte.

So, hieß das jetzt, ich war im Mittelalter? Oder bei der versteckten Kamera? Logisch betrachtet wäre Letzteres wohl sinnvoller gewesen, aber irgendwie sagte mir mein Bauchgefühl, dass ich meine Logik jetzt erst mal verabschieden durfte. Mittelalter also.

Verrückt. Einfach verrückt. Würde man mich jetzt als Hexe verbrennen und foltern und alles? Aber hey, der Typ hielt mich ja für einen Jungen! Das hieß zwar nicht, dass ich nicht gefoltert werden konnte, immerhin könnte ich ja trotzdem noch Spion oder Hexer sein, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, dass dieses Geschlecht einen bahnbrechenden Vorteil mit sich bringen könnte. Auch, wenn ich das Ganze irgendwie immer noch als beleidigend empfand.

»Antworte mir gefälligst!« Hoppla, ruhig Blut! Also, wieso kletterte man mittelalters auf Bäume? Hatte man mich bedroht? Leider war keiner da, der diese Rolle übernehmen könnte. Ein wildes Tier? Mehr als Hasen gab es hier wohl nicht… Hm. Dann habe ich hier einfach geschlafen, weil ich von weit her komme und nicht weiß, was hier alles haust. Was ja eigentlich auch stimmte.

»Ich habe hier oben genächtigt!«, rief ich mit dunkler Stimme. ›Und mich dabei anscheinend erkältet‹, fügte ich in Gedanken hinzu. ›Ich klinge wie ein Reibeisen!‹

»Und das soll ich glauben? Es ist bereits nach Mittag!« Da hatte er leider Recht.

»Ich bin erst spät in der Nacht zur Ruhe gekommen, denn ich bin noch gewandert, als schon die Sterne vom Himmel strahlten und alle anderen Menschen bereits zur Ruhe gegangen sind.« Wow, das klang gut! Vermutlich immer noch nicht mittelalterlich genug, aber schon mal ein Ansatz. Der Mann schaute mich ziemlich misstrauisch an.

»Von wo kommst du denn gewandert?« Exzellente Frage. Ich antwortete spontan mit:

»Ich komme aus Eritrea.« Eines der wenigen Länder, das ich aus dem Geografie-Unterricht noch kannte, vermutlich, weil es aussah wie ein Trichter und das irgendwie hängen geblieben war.

»Ist dies eine Stadt?« Hmm, ab wann gab es eigentlich Kolonien? Kannten die Menschen hier schon Afrika? Besser, ich erwähnte es nicht.

»Nein, es ist ein Land im fernen Aferli.« Toll, das war wohl die erste Assoziation zu Wort-dass-wie-Afrika-klingt? Also gut, hier ist die holde Maid, oder eher der wack’re Bursche, aus Eritrea in Aferli!

»Und was machst du hier?« Neben meiner Spionage-Tätigkeit?

»Ich bin ausgezogen, um fremde Länder und Sitten kennen zu lernen, sowie um die meinen zu lehren.« War das jetzt grammatikalisch richtig? Egal, es gibt für alles eine Entschuldigung: »Ich wandere nun schon so lange, dass ich die Sprache, die hier gesprochen wird, bis zu einem gewissen Grad beherrsche.« Stimmt, wo ich so darüber nachdachte war es doch eigentlich eine schöne Sache, dass hier deutsch gesprochen wurde.

»Nun, hier wirst du niemanden finden, dem du etwas beibringen kannst. Hat dir niemand gesagt, dass dieser Weg die Toten Landen durchquert?« Nee, wer denn auch? Die Rotzgören?

»Nein, leider nicht«, antwortete ich mit trauriger Stimme. »Doch diese trockene Ebene brachte mich um all meine Vorräte. Gibt es hier in der Nähe ein Stadt?« Jaa, meine noch nie vorhanden gewesenen Vorräte in meiner unsichtbaren Tasche.

»Wer gründet schon im Nichts eine Stadt?«, erwiderte der Mann verächtlich. »Nein, du müsstest noch bis zum Einbruch der Nacht weiterlaufen, bis du Denj’Gol erreichst, und das in einem zügigem Tempo.« Ich seufzte leise.

»Allerdings möchte ich dir einen Vorschlag unterbreiten.«

»Ja?« Alles, um von hier weg zu kommen!

»Ich bin am Hofe von König Estan angestellt, und er ist immer bemüht, anderen Ländern in freundschaftlicher Art und Weise entgegenzutreten. Sicherlich wäre es ihm eine Freude, wenn du ihm vom Volke der…« Er sah mich erwartungsvoll an.

»Eritreer, meinen Sie?« Oh, Mist, das müsste eigentlich »Meint Ihr?« heißen. Glücklicherweise überging der Mann meinen Fehler, ich sprach ja erst seit eben deutsch und mittelalterlich.

»Gewiss, wenn du ihm vom Volke der Eritreer erzähltest.« Ich nickte. Schließlich war es mir nicht möglich, die ganze Zeit auf diesem Baum sitzen zu bleiben. Was war eigentlich die ganze Zeit? Bei dieser Frage musste ich mir Mühe geben, um nicht mein Gesicht zu verziehen. Wie lange würde ich hier bleiben? Konnte ich zurück? Würde in ein paar Stunden wieder alles verschwimmen und ich saß im Park unter der Eiche, ein bisschen schummrig, weil ich mir den Kopf angeschlagen hatte? Nein, das hier war ganz sicher kein Traum, dafür war das Ganze zu realistisch, aber der Gedanke der Heimkehr verankerte sich in meinem Kopf wie die Zähne einer Raubkatze in ihre Beute – und genau so schmerzhaft war er auch.

»Nun, was ist?«

»Das würde mein Herz erfreuen, aber wie komme ich zum König?« Der Mann lachte.

»Indem du dich in diesen Karren setzt und mit mir reist!« Das war ja einfach. Ich wusste zwar nicht, ob der König mir die Eritrea-Story auch so einfach abkaufen würde, aber mit einem Satz Geschichten aus meiner Welt würde sich das schon irgendwie einrenken.

»Eritreer müssen gute Kletterer sein, wenn du es geschafft hast, diese Eiche zu erklimmen«, bemerkte der Mann und nahm die Zügel wieder auf.

»Oh, wir klettern viel, aber die Bäume hier in der Gegend sind mir unbekannt – es fällt mir doch schwerer als sonst«, erklärte ich, während ich hinten in den Wagen sprang. Es sollte schließlich keiner auf die Idee kommen, mich auf einen Mammutbaum zu schicken.

Kaum dass ich mich niedergelassen hatte, trieb der Mann seinen Braunen an und wir fuhren in einem gemächlichen Tempo los.

»Ach, und dein Name?«, fragte er beiläufig.

»Niklas«, antwortete ich schnell. Warum es ausgerechnet der Name meines kleinen Bruder sein musste, wusste ich nicht, aber er war mir als erstes durch den Kopf geschossen. Zu meinem Glück war ich hier sicher die einzige aus Eritrea, sonst hätte jemand diesen Namen bestimmt als nicht aferlisch sondern deutsch interpretiert. »Aber die meisten sagen Nick.«

»Dieser Name kommt auch bei uns vor, aber recht selten«, antwortete der Mann, schien aber nicht in irgendeiner Weise misstrauisch zu werden. Ich überlegte, ob ich mir schnell noch einen zweiten Namen zulegen sollte, um dabei zu behaupten, dass Niklas nur mein Rufname war, aber ich ließ es besser sein.

Als eine kleine Gesprächspause entstand, nutzte ich die Zeit sinnvoll und betrachtete mich eingehend, um herauszufinden, was an mir wohl so männlich sein könnte. Ich hatte meine Haare zu einem lockeren Zopf zusammengebunden, und schulterlang zählten sie wohl gerade noch als Pagenfrisur. Dann trug ich eine weite, beigefarbene Tunika, die zwar an der Hüfte geschnürt wurde, ansonsten aber die meisten Rundungen verdeckte, genau wie meine dunkle ausgebeulte Dreivierteljeans – ach ja, Hose, das machte mich wohl automatisch zu einem Jungen. Inwiefern meine schwarzen Schleifchenballerinas zu diesem Bild passten konnte ich zwar nicht sagen, aber sie schienen keinen zu stören. Ich überlegte kurz, und obwohl es mir sehr leid tat, riss ich die kleinen Bändchen ab und warf sie hinter uns auf den Weg. Vielleicht fand sie ja jemand und freute sich darüber, jemand, der nicht die Möglichkeit hatte, in einen Schuhladen zu spazieren und für 15 Euro neue zu bekommen. Wobei… Hatte ich diese Möglichkeit denn? Plötzlich wünschte ich mir sehnlichst meine Schleifchen zurück, aber jetzt ließ es sich nicht mehr ändern.
Während der Wagen über die Straße holperte, erinnerte ich mich daran, dass ich mich noch vor wenigen Stunden darüber geärgert hatte, dass ich nie Abenteuer erlebte. Nun, jetzt hatte ich eins, aber dabei erging es mir ähnlich wie Frodo in »Herr der Ringe«: So hatte ich es mir irgendwie nicht ausgemalt.