3. Kapitel

 

Jos

oder

Wie ich versuchte, Atlon in die Grundsätze der Demokratie einzuweisen

 

Wir erreichten Denj’Gol noch vor Einbruch der Dämmerung, aber die Sonne stand schon tief hinter der Stadt und ließ mich nur eine unregelmäßige Silhouette erkennen. Der Mann, der sich während der Fahrt als Atlon vorgestellt hatte, erzählte soeben, dass vor uns ein großes Handelszentrum lag, aber ich vermutete, dass nicht mehr als zehntausend Menschen dort lebten - was mir auch um einiges sympathischer war als eine Zehnmillionen-Metropole.

Schon als wir noch einige Kilometern vom Stadtzentrum entfernt waren, liefen uns auffallend häufig Bauern sowie ihre Frauen und Kinder über den Weg. Rechts und links von dem inzwischen recht breiten und ausgetretenen Pfad sah ich sie auf ihren Feldern arbeiten, die viel fruchtbarer zu sein schienen als das öde Flachland von vorhin.

Als ich mich an Frau Habichts Geschichtsunterricht in der siebten Klasse erinnerte, zog sich mein Magen unangenehm zusammen. Die Lebensbedingungen dieser Menschen waren so katastrophal und – Mist, wurde man im 21. Jahrhundert eigentlich noch gegen die Pest geimpft oder war diese Krankheit schon ausgestorben? Ganz unabhängig von den vielen anderen Epidemien, die hier ihr Unwesen treiben mussten! Ich vermutete zwar, dass Atlon mich nicht in eine Stadt voller Pestkranker schleppen würde, und wenn Denj’Gol befallen wäre, so würden hier sicher eine Vielzahl an unappetitlich aussehenden Menschen und ihre Gedärme herumliegen – ›Lic, du bist so eklig!‹, schalt ich mich in Gedanken – aber wer wusste schon, was mich demnächst erwarten würde?

Nach den ersten kleinen Hütten tauchten auch schon bald Häuser auf und der Weg begann, sich zu gabeln. Wir blieben allerdings immer auf dem Hauptpfad und nach einiger Zeit befanden wir uns in einem dichtem Gewimmel aus Menschen, Karren, vereinzelten Verkaufsständen und kleinen Emporen, auf denen Straßenkünstler ihr Können zeigten.

»Wir werden in einer Taverne, nicht weit von hier, nächtigen«, sagte Atlon laut. Andernfalls hätte ich ihn in diesem Tumult auch gar nicht verstanden, aber da ich mir nicht sicher war, ob ich das Jungenhafte in meiner Stimme bewahren konnte, wenn ich sie erhob, beschränkte ich mich auf nicken und schauen. Auch wenn sich in meinem Hinterkopf noch die Angst und das Misstrauen festgebissen hatten, wurde ich langsam neugierig. Der Markt, auf dem wir uns gerade ganz offenkundig befanden, wimmelte auch in den Abendstunden vor Leben. Unzählige Menschen feilschten um alle möglichen Waren, ein Junge, der kaum älter sein konnte als ich, schlug komplizierte Salti und sammelte anschließend Münzen ein, und direkt daneben fand ein Schaukampf mit blitzenden Dolchen. Zumindest nahm ich stark an, dass es sich um einen Schaukampf handelte, aber ehe sich irgendjemand verletzen konnte, bog Atlon in eine Gasse ein und die beiden Männer waren aus meinem Blickfeld verschwunden.

Die Straße, in der wir uns nun befanden, war lange nicht so voll. Nur ein paar Menschen torkelten im warmen Licht der Laternen herum, und ich vermutete, dass wohl ein Zusammenhang zu der Taverne bestand, in die Atlon und ich jetzt einkehrten. Der Karren wurde in einen Verschlag gestellt, sein Brauner in den Stall und wir in die Schenke geführt. Hier war es ungefähr genau so laut wie auf dem Markt. Einige Männer grölten herum und ließen ihre Bierkrüge fast auf den Tischen zerschellen, andere saßen schweigend da und schienen in Gedanken schon kaum noch hier zu sein. Atlon setzte sich an einen Tisch, der etwas abseits platziert war, und ich setzte mich mit dem Rücken zur Wand.

»Hast du Geld, Nick?« Ich schüttelte den Kopf.

»Wie hast du dich durchgeschlagen, ohne Geld?«

»Ich habe den Menschen Geschichten erzählt. Den Reicheren, vor allem. Sie fanden es ganz amüsant und haben mich dafür eine Nacht dabehalten, bis ich weiter gezogen bin«, erwiderte ich. Vermutlich hätte ich die Zeit, die ich gehabt hatte, besser zum Ausdenken von Ausreden nutzen sollen, aber so musste ich mich wohl doch meiner spontanen Kreativität bedienen.

Atlon musterte mich kritisch und ich fürchtete schon, dass »Feldarbeit« die bessere Antwort gewesen wäre, aber dann nickte er billigend.

»Was erzählst du ihnen?« Ich zuckte mit den Achseln.

»Ich erzähle ihnen von Eritrea und Aferli, von unseren Sitten und Legenden, meinen Wanderungen... Alles, was sie interessant finden. Wenn die Kinder da sind, wollen sie wissen, was man bei uns spielt, die Geschäftsleute möchten in Erfahrung bringen, wie wir handeln. Man wird jeden Tag aufs Neue überrascht.«

»Habt ihr einen König in Eritrea?«, fragte Atlon. Na gut, dann musste ich jetzt wohl versuchen, ihn in die Demokratie zu unterweisen, denn über ein politisches System hatte ich mir jetzt wirklich noch keine Gedanken gemacht.

»Wir haben so etwas wie einen König, aber er besitzt nicht die absolute Macht.« Und eigentlich ist er momentan eine sie, aber das ginge nun wirklich zu weit. »Er muss sich immer mit anderen Leuten absprechen, und nur, wenn die Mehrheit von diesen vielen Leuten, die alle irgendwelche anderen Rechte und Pflichten haben, zufrieden sind, passiert irgendetwas. Meistens dauert das sehr lange, aber als normaler Mensch kriegt man eigentlich nicht viel davon mit.«

»Der König lässt sich von jemandem etwas verbieten?«, fragte Atlon mit gedämpfter Stimme.

»Nun, ja, aber das Volk kann alle vier Jahre einen neuen König wählen, und da wäre es nicht gut, wenn er sich in den vier Jahren nur bereichern würde, weil er ja dann nicht wieder gewählt werden würde«, sagte ich ebenfalls etwas leiser. »Vermutlich würde er schon nach zwei Jahren von vielen anderen Personen, die was zu sagen haben, abgewählt werden.« Atlon schüttelte verwirrt den Kopf und winkte dem Wirt zu.

»Zwei Bier!« Hoppla, ich hoffe, dass er beide trinken wollte. Ich und Alkohol waren keine gute Kombination. Atlon erwiderte auf meinen erschrockenen Gesichtsausdruck nur:

»Keine Sorge, das geht auf mich. Oder auf den König, wie man will.« Oh-oh. Ich sollte zusehen, dass ich in der nächsten halben Stunde wegkam, um nicht mehr als ein paar Schlucke von diesem grässlichen Gebräu hinunter würgen zu müssen.

»Wieso auf den König?«, fragte ich, als der Wirt uns zwei Krüge auf den Tisch gedonnert hatte.

»Ich mache hier keinen Urlaub«, antwortete Atlon, nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte. »Ich bin im Auftrag des Königs unterwegs, hab' ein paar Geschäfte für ihn erledigt.« Ich nippte vorsichtig an dem Bierschaum und ließ dann schnell wieder von meinem Getränk ab. Grauenhaft, wie konnte man sowas nur trinken?

»Wie alt bist du?«

»Fünfzehn.« Einen Augenblick später fiel mir auf, dass ich vielleicht für einen dreizehnjährigen Burschen gereicht hätte, aber mit fünfzehn war man hier sicher nicht so schmächtig wie ich.

»Fünfzehn, ja? Dafür bist du aber ziemlich schmal.«

»Ich bin auch gerade erst fünfzehn geworden, diesen Sommer«, warf ich ein. Oh Gott, entweder waren die Leute hier einfach unglaublich naiv oder meine Tarnung würde in wenigen Sekunden auffliegen. Ich erinnerte mich vage an irgendeine Stelle aus »Die drei Musketiere«, wo erwähnt wurde, dass irgendwelche Frauen es nicht schafften, ihre weiblichen Rundungen in den weiten Pluderhosen zu verstecken – irgendsowas in der Art, aber zu meiner Situation passte es wie die Faust aufs Auge.

Ich schluckte vorsichtig noch ein bisschen Bier, woraufhin Atlon zu lachen begann.

»Wohl nicht der große Trinker, wie?«

»Nein, eher nicht«, nuschelte ich, während ich mir den Schaum von den Lippen leckte.

»Mach dir nichts draus, wenn du's nicht nimmst, trink' ich es.« Ich nickte und schob den Krug schnell von mir weg.

 

Wir plauderten eine Weile, aber als es immer lauter und anzüglicher wurde, verspürte ich auf einmal das dringende Bedürfnis, hier raus zu kommen.

»Ich geh mal eine Runde um den Stall«, verkündete ich und erhob mich.

»Pass bloß auf, dass du nicht für'n Mädel gehalten und weggeschleppt wirst«, lachte Atlon. Er hatte inzwischen einige Bier mehr intus, was mir, wenn man im Auftrag des Königs reiste, irgendwie nachlässig vorkam. Ich täuschte ein Lachen vor, schob den Stuhl ran und verließ den Schankraum durch den Hintereingang.

Die kühle Nachtluft streichelte meine Wangen und ich sog sie so genussvoll ein, dass man meinen könnte, ich wäre gerade zum ersten Mal seit Monaten aus dem Haus gekommen. Erst jetzt fiel mir auf, wie versifft es drinnen eigentlich gewesen war und wie wohltuend Stille sein konnte.

Direkt vor mir lagen die Boxen für die Tiere der Reisenden. Ich lief davor auf und ab, bis es mir zu langweilig wurde und ich die Stallgasse betrat. Leises Schnauben und Scharren ertönte, aber kein Mensch schien hier zu sein. Ich trat dennoch unwillkürlich leiser auf, als wäre ich eine Diebin, und schlich so von Box zu Box. Ganz hinten erkannte ich Atlons Pferd, das mich aus klugen Augen anblickte. Ich näherte mich ihm und blieb direkt vor der Boxentür stehen.

»Na, Brauner?« Ich streckte meine Hand aus, um ihn zwischen den Ohren zu kraulen, aber plötzlich wurde ich nach hinten gerissen und ehe ich auch nur irgendwie reagieren konnte hatte sich ein Arm um meinen Bauch und eine Schneide an meine Kehle gelegt. Ich erstarrte, und der Schrei, der eigentlich aus meinem Mund hatte dringen sollen, verwandelte sich in ein heiseres Gurgeln.

»Guten Abend, Pferdedieb«, raunte eine raue Stimme direkt neben meinem Ohr.

»Ich bin kein Dieb!«, krächzte ich verzweifelt. Adrenalin pulsierte durch meinen Körper wie eine Droge, die meinen ganzen Körper zu lähmen schien. Erst hängen wie ein nasser Sack, und wenn er den Griff lockert -

»Natürlich nicht«, erwiderte die Stimme spöttisch. »Deshalb schleichst du auch des Nachts durch den Stall und bleibst zufälligerweise vor dem wertvollsten Ross stehen, dass gerade hier weilt.«

»Aber ich bin mit diesem Pferd hier her gekommen!«, protestierte ich. »Der Besitzer hat mich unterwegs aufgesammelt und -«

»Jetzt bestiehlst du ihn.«

»Nein! Ich habe den Schankraum verlassen, weil mir schlecht wurde, und dann bin ich in den Stall gegangen, ohne irgendwelche Hintergründe! Ich habe ja noch nicht mal ein Halfter oder so!«

»Nicht, dass direkt neben dir eines hinge.« Als ich spürte, wie ein warmer Tropfen Blut mein Kehle hinab rann, sackte ich einfach zusammen. Wer auch immer hinter mir stand hatte damit wohl nicht gerechnet, denn ich rutschte einfach weg und konnte wohl von purem Glück reden, denn die Klinge verletzte mich nicht weiter.

»Was -« Ich schien ihn ziemlich überrascht zu haben, aber vielleicht war das jetzt wenigstens überzeugend – welcher Dieb hatte schon ein so schwaches Gemüt, dass er zu Boden stürzte, sobald er ein bisschen Angst bekam? Zugegeben, Todesangst, aber trotzdem.

Ich spürte, wie die Beine, an die ich mich gerade gelehnt hatte, plötzlich verschwanden, und ich fuhr schnell mit einer Hand nach hinten, um mich abzustützen. Jene Beine traten dafür nun in mein Blickfeld und ich ließ meinen Blick zögernd hinauf wandern.

Zu meiner Verwunderung stellte ich fest, dass vor mir nicht, wie erwartet, ein erfahrener kräftiger Mann stand, sondern ein Junge, der sicher noch nicht mal sein achtzehntes Lebensjahr vollendet hatte. Ein Stallknecht vielleicht? Meine Augen waren starr auf den im Mondlicht glitzernden Dolch in seinen Händen gerichtet, als ich auf allen Vieren  nach hinten krabbelte. Der Junge blieb ruhig stehen, musterte mich mit ernsten Blick und öffnete erst den Mund, als ich mit dem Rücken gegen die gegenüberliegende Boxenwand stieß.

»Du benimmst dich wie ein Mädchen«, höhnte er. »Ein schreckhaftes, verängstigtes Mädchen, dass von der Schürze seiner Mutter in die Realität geschleudert wurde.« Ich schwieg. Was hätte ich auch tun können, ihn für diese Beleidigung zum Kampf herausfordern? Ich hätte nicht mal den Hauch einer Chance, und außerdem hatte er ja recht. Ich war ein verängstigtes Mädchen, das gerade lieber tausende von Sandburgen mit seinem Bruder bauen wollte als hier in der Stallgasse kauernd zu sterben.

»Was denn, hat es dir die Sprache verschlagen?«

»Nein«, antworte ich leise und presste mich an die Wand.

»Warum antwortest du dann nicht? Ist es dir egal, wenn andere Leute dich beleidigen?«

»Nein, eigentlich nicht«, murmelte ich.

»Dann sag was!«

»Was denn?«, erwiderte ich zaudernd. Der Junge schüttelte den Kopf und ließ seinen Dolch sinken.

»Ich weiß nicht, was du darstellen sollst, aber sicher keinen Dieb«, stellte er fest.

»Danke.«

»Mal ehrlich, was machst du hier?« Er lehnte sich an die Boxenwand und schlug lässig ein Bein über das andere.

»Mit wurde in der Wirtsstube wirklich schlecht«, antwortete ich und schüttelte meine Hand aus, die von den Strohhalmen, die ich soeben hinein gedrückt hatte, ziemlich schmerzte.

»Kein Trinker?«

»Komisch, du bist schon der Zweite heute, der das fragt«, brummte ich. »Und ich bin's immer noch nicht.« Der Junge lachte und stieß sich von der Wand ab.

»Wie heißt du?«

»Nick. Und du?«

»Johannes, oder einfach Jos. Ich arbeite hier als Stallknecht und sie haben erst vor zwei Nächten versucht, einen Gaul mitgehen zu lassen. Seitdem bin ich ziemlich wachsam, was das angeht, aber wenn du jemals deine Finger lang machst, dann tippe ich mal eher auf Schmuck.«

»Eigentlich habe ich bis jetzt weder Schmuck noch Pferde noch sonst irgendwas gestohlen.« Ich ruckelte unruhig auf dem Boden umher. »Darf ich aufstehen?«

»Klar. Tut mir leid, wenn ich das so sage, aber ich glaube, selbst wenn du jetzt auf einmal ein Messer aus deinem Ärmel zauberst, würdest du keine große Gefahr für mich darstellen.«

»Das glaube ich auch nicht«, meinte ich zustimmend und rappelte mich auf. »Ich komme von einem Ort, an dem man sich normalerweise weder ein Messer an die Kehle hält noch auffallend oft verprügelt.«

»Bringst du Botschaft aus dem Paradies?«, grinste Jos.

»Ja, das wollte ich dem Braunen gerade zuflüstern, ehe du mich von ihm weg gezerrt hast«, erklärte ich schmunzelnd, erfreut, dass ich ihm nicht erklären musste, dass man im 21. Jahrhundert einfach nur eine Schusswaffe zu zücken hatte. Jos lachte leise und machte dabei eine Handbewegung zum Eingang der Stallgasse.

»Gehen wir in die Futterkammer? Ich hab' keine Lust, mir hier die Beine in den Bauch zu stehen und den Pferden beim Äppeln zu lauschen.«

»Klar, ist mir auch lieber«, antwortete ich und folgte ihm über den Gang in einen Raum, der mit Getreidesäcken, einigen Heuballen und Eimern gefüllt war.

»Ist das eigentlich in Ordnung oder muss ich damit rechnen, dass ich gleich von einem wetternden Stallmeister rausgeworfen werde?«, fragte ich. Jos ließ sich auf einen der Säcke fallen und schüttelte den Kopf.

»Der Wirt schaut dann und wann vorbei, aber heute wird er kaum von der Bar wegkommen.« Er griff nach einem kleineren Beutel, der an der Wand lehnte.

»Apfel?«

»Gerne.« Ich riss reflexartig den Arm hoch, als Jos mir eine der runden Früchte fast ins Gesicht schleuderte und rettete meine Nase nur um Haaresbreite.

»Mach das besser nicht noch mal, normalerweise kann ich gar nicht fangen!«, sagte ich, als ich den Apfel kurz an meiner Hose sauber rieb und dann hinein biss.

»Kein kämpfen, kein fangen – kannst du denn wenigstens sticken?«

»Nein, leider auch nicht. Aber... Ähm, ich kann rechnen! Ist das gut?« Jos hob eine Augenbraue.

»Bist du aus einer reichen Familie?«

»Ich...« Oh weh, das hätte ich besser nicht sagen sollen. Zu wohlhabend sein war nie gut, weder im Mittelalter noch in meiner Zeit. Meine Familie war nicht unbedingt reich, aber man könnte schon behaupten, dass wir mehr Geld hatten, als man für ein durchschnittliches Leben brauchte. Glücklicherweise durchfuhr mich in diesem Moment ein Geistesblitz und ich setzte ein klägliches Gesicht auf.

»Niemand aus meiner Familie weilt noch hier«, sagte ich bekümmert. Das war, genau genommen, noch nicht mal eine Lüge, und es stimmte mich tatsächlich traurig. Jos nickte mitfühlend.

»Die Pest? Das war es bei mir auch. Hat alle mit sich genommen; Eltern mit dem ungeborenen Kind, meine kleine Schwester...«

»Ich... Das tut mir unglaublich leid«, sagte ich mit erstickter Stimme.

»Ist schon ein paar Jahre her«, erwiderte Jos achselzuckend. »Es sind zu der Zeit ziemlich viele gestorben, die Epidemie hat ihre Wirkung nicht verfehlt.«

»Wie, ihre Wirkung?« Das klang irgendwie seltsam, als hätte jemand sie in die Welt gesetzt, um die Bevölkerung zugrunde zu richten, und nicht, damit die putzigen kleinen Bakterien in den dahin siechenden Körper ein schönes Leben haben. Trotzdem überraschte es mich, dass die Frage nicht als dumm abgestempelt wurde.

»Es war eine Drohung vom König, wegen der Aufstände. Wo warst du da, dass du das nicht weißt?« Vermutlich hatte ich gerade Bio und musste mich mit einem Text über Jenner und seine erste Impfung auseinandersetzen. Ein König, der Epidemien ins Land setzt? Wie auch immer er das bewerkstelligt hatte, das mit den Aufständen konnte ich nachvollziehen. Oh Gott, und zu dem Typen war ich unterwegs?

»Ich komme nicht von hier und bin erst seit einigen Monaten in eurem Reich«, erklärte ich. »Aber wegen eurem König: Er macht Seuchen? Wie denn?«

»Naja, nicht direkt der König«, erwiderte Jos. »Seine Magier.« Magier? Was war denn mit der Hexenverbrennung? Ich musste ziemlich verwirrt ausgesehen haben, denn Jos fragte:

»Gibt es in deiner Heimat keine Magier?« Ich verneinte.

»Nun, Magier schüren irgendwelche Kräfte, aber ich habe keine Ahnung, woher sie kommen. Allerdings kostet es sie selbst auch Energie, deshalb verbringen sie selten solche großen Werke wie eine ganze Seuche übers Land bringen. Eigentlich sind sie eher da, um dem König das Leben bequem zu machen.« Er schnaubte verächtlich und ich sah, wie seine Hand sich in den rauen Jutestoff krallte.

»Vollbringt er dann und wann auch gute Dinge?«, fragte ich vorsichtig.

»Nun, er war der erste, der die offizielle Folter und die Hexenverbrennungen abgeschafft hat«, begann er. »Und wir zahlen auch nicht mehr so hohe Abgaben wie zuvor. Dafür hat er uns unsere Meinung genommen. Wenn du dich in der Öffentlichkeit gegen ihn äußerst -« Auf einmal hielt er inne und seine Augen bohrten sich förmlich in meine.

»Bist du ein Anhänger des Königs?«, fragte er mir leiser Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Ich habe bis jetzt noch nichts von ihm gehört, aber das, was du mir eben erzählt hast, klingt schrecklich«, antwortete ich. Als wir beide schweigen kam ich mir auf einmal so falsch vor, dass ich zögernd hinzufügte: »Ich weiß nicht, ob das jetzt besser ungesagt geblieben wäre, aber ich will dich eigentlich nicht anlügen. Ich bin – und bitte lass mich aussprechen – eigentlich gerade auf dem Weg zum König.« Jos sah mich erst erschrocken, dann voller Hass an.

»Bitte, lass mich ausreden! Ich saß in den toten Landen fest und hatte keine Ahnung von nichts! Und vor allem hatte ich nichts zu essen, nichts zu trinken, keine Karte – niente. Ein Mann hat mich aufgegabelt und mir angeboten, mit ihm zu kommen, aber wenn ich gewusst hätte, was das für ein König ist, wäre ich sofort vom Wagen gesprungen, das schwöre ich!« Jos sah immer noch ziemlich misstrauisch aus und ich hätte mich für meine Ehrlichkeit am liebsten geohrfeigt. ›Manchmal ist es besser, zu lügen, wenn man seine Freunde behalten will‹, dachte ich bedrückt.

»Warum sagst du mir das?«, fragte Jos und sah mich ernst an.

»Weil ich nicht ehrlich sein wollte. Ich weiß, dass man da oft nicht drum herum kommt, und ich weiß, dass es manchmal auch in Ordnung ist, aber in diesem Moment kam es mir irgendwie... nicht richtig vor.« Jos schlug die Augen nieder.

»Wenn du so weitermachst, dann kommst du nicht weit«, kommentierte er trocken.

»Da hast du wohl Recht«, erwiderte ich geknickt und stützte den Kopf auf die Hände. »Ich hatte wirklich keine Ahnung. Bringst du mich jetzt um?« Jos sah mich wieder an und ich meinte, ein Funkeln in seinen blauen Augen zu erkennen.

»Natürlich bringe ich dich nicht um, Nick. Im Grunde genommen finde ich es eigentlich nett von dir, dass du bei der Wahrheit geblieben bist, aber ich mache mir ein wenig Sorgen um dein Leben. Zumal du irgendwie nichts Wichtiges kannst, was ein Junge können sollte.« Er grinste mir  frech zu. »Du siehst nicht mal aus wie ein Junge. Und du klingt so wie ein Wolf, der Mehl gefressen hat.«

»Hey! Ich kann weder was für meine Gene noch für den Zeitpunkt meines Stimmbruchs!«

»Deine Gene?«

»Vergiss es. Kannst du mich denn in irgendetwas Jungenhaften unterweisen?« Jos' Grinsen sah jetzt richtig verschwörerisch aus.

»Heute nicht mehr, aber wenn ihn ein paar Tage in der Stadt bleibt, dann kann ich dir helfen.« Ich zuckte mit den Achseln.

»Keine Ahnung, wie lange ich hier bleibe. Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich überhaupt weiterziehe, in den letzten zehn Minuten hast du mir eigentlich jeglichen Grund genommen.«

»Dann bleib hier!«

»Und was mache ich hier? Außerdem weiß ich nicht, wie ich das Atlon jetzt darlegen soll. Der Mann, der mich mitgenommen hat«, fügte ich erklärend dazu. »Ich meine, er hat mir jetzt vermutlich ein Zimmer und ein Bier gezahlt – ein Bier, das er, um genau zu sein, eh selber getrunken hat – und mich mitgenommen... Dann hätte ich ihn ja so ausgenutzt.«

»Siehst du, das meine ich! Du bist viel zu höflich!« Jos hörte sich an wie mein Chemielehrer, der sich über meine Unfähigkeit, Gott und die Welt beklagte.

»Was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Mich höflich bei Atlon bedanken, hier im Stall schlafen und morgen dann sehen, was die Welt für mich bereit hält?«

»Ich schlafe auch im Stall, es ist gar nicht mal so übel«, erwiderte Jos. »Aber ich finde, wenn du schon ein Zimmer hast, dann kannst du das ruhig ausnutzen.«

»Ich will aber nicht ausnutzen!«, erwiderte ich bockig.

»Wer wollte hier ein Mann werden?«

»Atlons Wallach.«

»Wir sehen uns morgen!« Ich erhob mich und winkte ihm gähnend zu.

»Bis dann. Schlaf gut.«

»Du auch.«