4. Kapitel

 

Mit scharfer Schneide

oder

Wie ich die Existenz Denj’Gols anzuzweifeln begann
 

Atlons Zimmer stellte sich als winzige Kammer heraus. Die Einrichtung bestand ausschließlich aus einer schmalen Pritsche, die ich schon auf drei Meter Entfernung als äußerst unbequem definieren konnte. Vielleicht war sie dennoch gemütlicher als der nackte Boden, auf dem ich mich niederlassen musste, denn natürlich beanspruchte Atlon die dünne Matratze für sich. Es dauerte seine Zeit, bis ich endlich eingeschlafen war, aber es schienen nur Sekunden vergangen zu sein, ehe lautes Schnarchen und das helle Licht des Mondes, das direkt in das Zimmer fiel, mich wieder aufwachen ließen. Da ich vermutete, dass ich ohnehin nicht wieder einschlafen konnte, stand ich auf und rieb mir die schmerzenden Knochen, während ich ans Fenster trat.

In diesem Moment schien diese Welt friedlicher, als man es sich je hätte vorstellen können. Ohne Epidemien, mit denen ein skrupelloser König sein Volk tyrannisierte, ohne Mordanschläge und ohne die Angst, die einem im Hinterkopf saß, wenn man vorgab, jemand zu sein, der man nicht war. Dieser Augenblick ließ mich zum ersten Mal wirklich realisieren, was geschehen war. Ich war fort, getrennt von Allem, was ich kannte. Meine Familie, meine Freunde, die Sitten und Werte der Gesellschaft – sogar meine Schule kam mir in den Sinn. Jos durfte nicht lernen. Und ich hatte die Chance gehabt und nie wirklich geschätzt, was man mir gegeben hatte. Wann war ich schon dankbar gewesen für mein Leben? Als wir im Geschichtsunterricht über die blutigen Kriege geredet hatten, die einst die Länder verwüstet hatten?

Ich seufzte leise. Und jetzt stand ich hier am Fenster und sah mein eigenes ungewisses Schicksal vor mir ausgebreitet. Was würde wohl geschehen? Würde ich zum König gehen oder in  Denj’Gol bleiben? Würde ich mich als etwas schwächlicher, schmal geratener Bursche durchs Leben schlagen oder plötzlich ein verletzliches junges Mädchen sein? Würde mein Weg sich wieder durch die Epochen winden oder im Mittelalter verbleiben?

Jetzt, wo es so endgültig schien, kam in mir der sehnliche Wunsch auf, wieder in meine Zeit zurück zu kehren. In die Welt, die mir vertraut war, die ich kannte.

»Warum bin ich hier?«, fragte ich den Mond mit leiser Stimme.

Er antwortete nicht, als er direkt vor meinen Augen zu einem weißen Lichtpunkt im Dunkel der Nacht verschwamm.

 

Die Sonne schien. Und ich lag im Gras. Verwirrt stützte ich mich mit den Armen auf und wartete, bis sich mein Blickfeld, das gerade auf ein kleines Oval beschränkt war, wieder normalisierte, sodass ich alles um mich herum wahrnahm.

Das war der Stadtpark! Zuhause! Mit einem Keuchen rappelte ich mich auf und drehte mich um meine eigene Achse. Kein Zweifel, ich befand mich nicht mehr in irgendeinem rattenverseuchten Zimmer.

Wow. Ich sah an mir hinab, schüttelte meine Arme und Beine wie nach einer langen Autofahrt – es tat weh, aber es funktionierte. Ich war ich und ich war daheim. Mit einem ungläubigen Kopfschütteln sammelte ich Robinson Crusoe auf, der zu meinen Füßen lag und wandte mich ab. Besser, ich ging jetzt nach Hause und mied diesen Ort. Wer wusste schon, vielleicht hatte der Baum ja was damit zu tun. Ich warf noch mal einen Blick über die Schulter und betrachtete ihn. Naja, eine harmlose Eiche. Keine Äste, die wie Finger aussahen und danach lechzten, mich zu packen und durch die Luft zu schleudern, keine Wurzeln, die sich ungewöhnlich schnell durchs Erdreich bohrten... Ein Baum.

Trotz dieser Feststellung blickte ich mich immer wieder misstrauisch um, auch als ich den Park schon längst hinter mir gelassen hatte. Und mit einem Mal fielen auch die letzten Reste von Gelassenheit von mir ab und ich begann zu rennen. Ich spürte die belustigten Blicke der Bürger auf mir, schnappte ein »Da verpasst wohl grad jemand seinen Bus«, auf und rannte, rannte, rannte, bis ich  mich völlig erschöpft neben unserem Teich zu Boden fallen ließ.

»Licia, was machst du da?«, krähte Niklas glucksend.

»Ich liege auf dem Boden, Kind«, stieß ich atemlos hervor. Mein kleiner Bruder kicherte und legte sich neben mich. Manchmal wüsste ich wirklich gerne, was kleine Kinder zu ihren Taten bewegt, aber irgendwie fand ich es so lustig, dass sich in mein Keuchen nun auch noch ein etwas hilflos klingendes Prusten mischte. Ich war so froh, hier zu sein, mit meinem harmlosen Bruder, der auf dem Rücken lag wie ein Käfer und durch das Gras kugelte, als ich begann, ihn zu kitzeln. Auch wenn  es bei Mahlzeiten unglaublich nervig war, wenn man in regelmäßigen Abständen mit Erbsen beworfen wurde, und auch wenn ich es weniger genoss, für ihn und seine Freunde Aufpasser und Alleinunterhalter zu spielen – diese unregelmäßigen Kiekser klangen nach einer Welt, in der man befreit lachen durfte, ohne dass sich die halbe Menschheit umdrehte. Mir wurde bewusst, wie glücklich ich mich doch schätzen konnte, ausgerechnet in diesem Abschnitt der Geschichte zu leben und nahm mir vor, mich beim Politik-Lernen niemals wieder über das verschachtelte System zu ärgern. Solange die Leute an der Spitze alles verstanden und mich lachen ließen, sollte ich ihnen besser dankbar sein.

»Licia!«

»Was?«

»Du hörst mir gar nicht zu«, quengelte Nicky schmollend.

»Entschuldigung, was?«

»Ist egal.« Toller Bruder. Als ich gehen wollte, hielt er mich trotzdem zurück.

»Wo warst du denn?«

»Ich habe nur gelesen, im Park.« Stimmt, wo er es sagte... Es schien vielleicht zwei, drei Stunden weg gewesen zu sein, aber sicher nicht einen halben Tag.

»Du sollst nämlich das Katzenklo sauber machen, wenn du wieder da bist.« Ah, super. Vor ein paar Stunden hatte mir jemand einen Dolch an die Kehle gehalten und jetzt sollte ich Katzenmist wegräumen, wundervoll.

»Dann gehe ich mal«, verkündete ich augenrollend und ließ ihn in seinen Ninjaträumen zurück.

Als ich mit einer Schaufel bewaffnet neben dem Kasten kniete, kam Snuffles angetigert. Den Namen hatte er von mir, weil er bei seinem pompösen Einzug dauernd geniest hatte, und da damals niemand gewusst hatte, was der Name bedeutete, war es zu spät für den Kater.

»Wenn du wüsstest, wie anstrengend du bist, Schnupfen!«, schimpfte ich mit sanfter Stimme, während ich eines seiner Stoffwechselprodukte in den Mülleimer balancierte. Er antwortete mit einem einschmeichelnden Maunzen und rieb seinen Kopf an meinem Ellenbogen. »Kannst du nicht wenigstens im Sommer die Beete benutzen?« Mehr als völlig sinnloses Geschnurre ließ sich ihm nicht entlocken. »Geh dich doch putzen«, murrte ich und klappte geräuschvoll den Deckel des Mülleimers zu. Snuffles hüpfte erschrocken zur Seite und stolzierte mit aufgerichtetem Schwanz hinweg. Jetzt tat er mir wieder leid, aber ich konnte echt nicht nachvollziehen, warum Niklas in seinen Sandkuchen-backen-Drang nicht auch mal hier drin rumbuddeln konnte. Mit vier schafft man das ja wohl, wenn auch nicht ganz so kompetent.

Als ich den Mülleimer in die Küche zurück brachte, traf ich auf Mama, die ein paar Möhren schnippelte. Ich schnappte mir einen der Schnitze und begann, langsam daran herum zu knabbern.

»Hast du -«

»Das Katzenklo, ja, wenn du das meintest«, unterbrach ich sie.

»Ach, schön, danke.« Schön nun nicht gerade. Aber gut. »Wo warst du denn gewesen?«

»Lesen.« Mama nickte wissend und wandte sich wieder ihrem Gemüse zu.

In diesem Moment überfiel mich die Müdigkeit. Ich fühlte mich, als hätte ich die Nacht durchgemacht und konnte kaum verstehen, wie ich gerade in einem Höllentempo hier her hatte rennen können.

»Ich leg mich mal hin«, murmelte ich gähnend und manövrierte meinen ausgepumpten Körper auf die Tür zu.

»Ist dir schlecht? Brauchst du eine Wärmflasche? Wenn du di-«

»Ich bin müde, Mama.« Vermutlich war ihre Fürsorge momentan bei Nicky besser aufgehoben, es sei denn, sie wollte mit mir bereden, wie ich möglichst schnell zum Mann wurde. Und das wäre mit das Letzte, um was ich sie bitten würde.

Als ich aus ihrem Blickfeld verschwunden war und das besorgte Gemurmel ein Ende hatte machte ich mir nicht mehr die Mühe, wie ein normaler Mensch zu laufen und schleppte mich eher unbeholfen die Treppe hinauf. Mein Bett traf ich glücklicherweise und schaffte es sogar noch, die Decke halbwegs über meinen schlaffen Körper zu ziehen. Und dann war ich weg.

 

Als ich erwachte, schien der Mond in mein Zimmer. ›Kommt mir irgendwie bekannt vor‹, dachte ich bitter. Vielleicht sollte ich mich jetzt ans Fenster stellen und nach Denj’Gol reisen.

Was ich natürlich nicht tat. Schlafen wollte ich zwar auch nicht mehr – ich musste seit dem späten Nachmittag hier gelegen haben – aber lieber verweilte ich in der modernen Welt, anstatt mich von Jos in Stücke reißen zu lassen. Der arme Junge konnte sich kaum vorstellen, was er sich da vorgenommen hatte, auch wenn er mit mir vielleicht ein bisschen mehr Erfolg haben könnte als mit den Ballerina-Leggins-Cardigan-Perlenohrringe-Mädchen.

Was in mir doch gleich die Frage aufwarf, was ich mir unter Denj’Gol vorzustellen hatte. Also schnappte ich mir meinen Laptop, schaltete ihn ein und tippte den Namen der Stadt in die Suchleiste ein. 468. 000. 000 Suchergebnisse. Autos.

Genervt klickte ich in den Suchoptionen auf »wortwörtlich«. Ähm... Restaurants in Teheran? War das nicht die Hauptstadt vom Iran?

Mehr fand sich nicht, also ging ich auf die alte Suchoption zurück und gab »Denj’Gol Stadt« ein. Goldrausch... Nein, das war es auch nicht.

Ich klappte den Laptop zu und räumte ihn weg. Wenn Denj’Gol ein wichtiges Handelszentrum war, dann musste es doch irgendwo verzeichnet sein! Selbst wenn der Name der Stadt sich verändert hatte oder die Bewohner Schande auf sich geladen hatten, was weiß ich. Es sei denn, die Pest-Magier hatten den Namen weg gezaubert, huhu, wie gruselig.

Falls ich jemals dorthin zurückkehre, sollte ich Jos mal fragen, in welchem Land ich mich eigentlich befinde‹, dachte ich. Während diese Situation in lebhaften Bildern durch meinen Kopf schoss, musste ich erstens grinsen und mich zweitens am Bettpfosten festhalten, weil mein Blickfeld plötzlich beträchtlich eingeengt wurde.

 

Die Sonne schien. Schon wieder.

Ich meine, es war ja nichts Ungewöhnliches, wenn die Sonne sich jeden Morgen über dem Horizont zeigt, aber warum in Gottes Namen tat sie das zum wiederholten Male mitten in der Nacht? Ehe ich eine Halluzination ausschloss sah ich mich um, aber die verdreckte Kammer ließ keinen Zweifel; Welcome back to Denj’Gol!

Atlon schnarchte noch vor sich hin und ich beschloss, zu warten und ihn bei der Gelegenheit ein paar Dinge zu fragen. Nach einer knappen Viertelstunde begann der Deckenberg zu grummeln, wälzte sich zur Seite und plumpste auf den Boden.

»Verdammt, diese Pritschen sind schmal wie ein Pferderücken!«, fluchte Atlon ungehalten. »Und genauso unbequem.«

»Guten Morgen«, schmetterte ich betont fröhlich.

» Niklas?«

»Bin noch da.« Oder, um genau zu sein, wieder. Gut, dass Hexen hier nicht ertränkt oder verbrannt wurden. Vielleicht lernte ich ja neben meinen Zeitreisekünsten auch noch, Krankheiten zu verbreiten.

Atlon nuschelte etwas wie »Nrrgrrmpf« und rappelte sich auf. Als ich registrierte, dass er nur einen albernen Lendenschurz trug wandte ich unauffällig den Blick ab. Ich wollte gar nicht wissen, was gestern Abend noch alles in der Wirtsstube passiert war. Oder ob er immer so dreckig, ungepflegt, ekelerregend, abstoßend aussah, wenn er meinte, er könne es sich noch leisten, seinen haarigen Bierbauch zur Schau zu stellen.

Als Atlon sein Wams übergezogen hatte und sich Wasser aus einer flachen Schale ins Gesicht spritzte, fragte ich möglichst beiläufig:

»Was für Geschäfte erledigst du denn eigentlich für den König?« Atlon zuckte die Achseln.

»Dieses und Jenes. Steuern und Abgaben kontrollieren, einige Tauschwaren...« Mir war im Karren nichts zum Tauschen aufgefallen, also konnte es sich höchstens um sehr kleine Dinge handeln, Schmuck vielleicht.

»Und... wie ist der König so? Also, ich meine... Wie ist denn die Lage momentan? Gibt es wieder solche schrecklichen Aufstände?« Bei Atlon schien man kaum dick genug auftragen zu können, und selbst wenn er misstrauisch wurde, dann zeigte er es nicht. Seine Züge verzerrten sich eher zu einem abfälligen Lächeln.

»Nein, nichts. Niemand kann sich dem König entgegenstellen.« Hm… Mal schauen, wie viel ich mit dieser Einschleim-Technik in Erfahrung bringen konnte.

»Ich habe gehört, er sei so mächtig, dass er jedes Land einnehmen könnte, wenn er nur wollte.« Atlon hob eine Augenbraue.

»Vielleicht können er und seine Magier es, vielleicht nicht. Dieses Wissen ist nicht für jeden dahergelaufenen Burschen bestimmt.« Er hatte wirklich Magier! Atlon schien mir bei seiner Geheimnistuerei allerdings ein wenig seltsam. Vermutlich gehörte er nicht zu den engsten Vertrauten des Königs, tat aber so, um wichtig zu wirken. Umso besser, denn was er wusste würde er mir sicher breitwillig erzählen. Nur lieber ein andermal, wenn er nicht verkatert war.

»Wie lange bleiben wir eigentlich in der Stadt?«

»Wir brechen am Morgen des vierten Tages auf.« Atlon schritt zur Tür. »Tu, was immer du willst, solange du keine Schwierigkeiten machst und pünktlich zur Abreise da bist.« Er warf mir einen kleinen Lederbeutel zu, der verdächtig klimperte. »Pass auf, dass es dir nicht geklaut wird. Versteck es.« Ich nickte und er verließ mit einer Abschiedsgeste den Raum. Na dann… ich sollte mir Denj’Gol noch mal ansehen!

 

Kaum dass ich die Schankstube betreten hatte rannte ich in Jos rein, der an einer Säule lehnte und grinste, als ich versuchte, mich zu fangen und dabei wohl jämmerlich aussehen musste. Er blieb natürlich an Ort und Stelle wie der standhafte Zinnsoldat.

»Morgen«, begrüßte er mich gut gelaunt. »Erinnerst du dich eventuell noch an die Pläne von gestern Abend?«

»Du wolltest irgendwas mit den ihrer Männlichkeit beraubten Pferden anstellen, wenn ich mich recht entsinne. Ist schon eine Gemeinheit.« Jos lachte. Bei Tageslicht, wenn keine dunklen Schatten sein Gesicht verunstalteten, wirkte er so harmlos wie ein Spatz. Sonnenblonde Haare, strahlendblaue Augen und ein paar Sommersproßen – ein Klischee, wie es im Buche steht, aber mehr als sympathisch.

»Komm mit! Ich hab die Vormittage hier meistens nichts zu tun, und da du ja allem Anschein nach noch anwesend bist kann ich sie auch mal sinnvoll verbringen.«

»In Ordnung, versuch's halt; Viel Glück. Und was machen wir jetzt?«

»Auf den Markt gehen«, entgegnete er und schwang die Tür auf. »Ich habe heute noch nicht gegessen und du wahrscheinlich auch nicht.« War ›heute‹ heute oder zählte gestern Abend in meiner Welt auch noch mit? Wie lange es auch her sein mochte, der Apfel war das Letzte gewesen, was ich zu mir genommen hatte.

Der Markt war am Vormittag deutlich leerer als in der Dämmerung, aber noch immer schwirrten die verschiedensten Menschen durch die Gassen. In der Luft lag der Geruch von frisch gebackenem Brot, Seifen oder Duftkerzen und daneben konnte ich sogar einen Hauch von Kräutern entdecken.

»Seit es verboten ist, die Nachttöpfe aus dem Fenster zu entleeren, riecht es hier wesentlich besser«, erklärte Jos, als er mein wohliges Schnuppern registrierte.

»Tolle Idee.« Wir schlenderten durch das Gewimmel und kauften einem rundlichen Mann zwei Brötchen ab, die für ihren lächerlichen Preis – selbst Jos meinte, dass er sich wunderte, wie der Bäcker seinen Lebensunterhalt verdiente – erstaunlich gut schmeckten. Als wir an einem Schmuckstand vorbei kamen, konnte ich es mir nicht nehmen lassen, die kunstvoll verschlungenen Armreifen und Anhänger zu bewundern. Wie konnte man von Hand nur die winzigen Schuppen einer Schlange so detailliert zur Geltung bringen? Wer hatte es zustande gebracht, diesen kleinen Raben so lebendig aussehen zu lassen?

»Nick, hör zu!«, flüsterte Jos und nickte unauffällig in die Richtung eines hageren Mannes, der mit Händen und Füßen auf den Verkäufer einredete.

»- und es sieht doch wahrlich jeder, dass dort das Werkzeug abgerutscht ist!« Ganz offensichtlich feilschte er um den Preis, und ich musste anerkennen, dass er seine Rolle gut spielte. Mal entzürnt, mal sanft und schmeichelnd, mal abgeneigt zu gehen und immer wieder zurückkehrend. Am Ende hatte er die Kette um ein Drittel heruntergehandelt.

»Das ist Lektion Eins«, sagte Jos hinter mir. Ich hatte ganz vergessen, dass er dort noch stand und zuckte zusammen.

»Was? Feilschen?«

»Feilschen auch, aber im Großen und Ganzen manipulieren. Höre den Leuten zu und ahme es bei Gelegenheit nach.« Ich blickte dem Mann hinterher, bis Jos meine Aufmerksamkeit auf einen Schaukampf lenkte und die Kampftechniken der Gegner erläuterte.

»Schau! Der Jüngere bleibt fast die ganze Zeit in der Defensive. Er hat keine Ahnung und traut sich noch nicht, selbst einzugreifen. Die Zottelmähne ist auch nicht sehr aggressiv, aber – da! Er hat versucht, seine Seite zu treffen, sie war ungeschützt. Der Kleine hat Glück gehabt.«

»Der ist älter als du«, warf ich ein, aber Jos ignorierte meinen Einwand und zog mich durch die Menschenmasse, um näher ran zu kommen. War ja fast wie mein ehemaliger bester Freund bei einem Fußballspiel, nur dass ich davon wenigstens ein paar Regeln gekannt hatte. Hier gab es vermutlich nicht mal welche.

»Jetzt geht er auch in die Offensive, er will vermeiden, dass seine Kraft ihn vor dem Ende verlässt. Was vermutlich bald der Fall sein wird, wenn Zottelmähne weiter so exzellent pariert.« Jos pfiff anerkennend durch die Zähne.

»Verletzen die sich dabei?«, fragte ich vorsichtig. Jos schüttelte den Kopf.

»Es passiert halt mal, aber da es nicht das Ziel des Kampfes ist, gibt es selten größere Wunden.« Während Jos mit mir redete, blickte er gebannt auf die Kämpfer und ich beschloss, es ihm einfach nachzutun. Genau im richtigen Moment, denn plötzlich trat Zottelmähne dem Jüngeren in die Kniekehle und er sackte zusammen. Vom Boden lenkte er noch einige Schläge ab und schaffte es irgendwie, seinen Gegner zu sich auf die Holzdielen zu ziehen. Was dann folgte war nur Rumgerolle und Kraftmessen, ehe Zottelmähne von der Bühne in den Staub kullerte. Daraufhin brach ein ohrenbetäubendes Gejohle aus, obwohl ich das mit der Begrenzung irgendwie ein bisschen unfair fand. Jos dirigierte mich zurück zur Schenke und ließ sich über das unspektakuläre Ende aus.

»Ich hab schon ewig nicht mehr mit jemandem geübt«, meinte er vorfreudig, als wir auf den Hof traten.

»Wie? Meinst du, dass ich kämpfen soll, so richtig, mit einem Schwert?«

»Ein Schwert kriegst du vermutlich nicht mal angehoben«, spöttelte Jos. »Belass es lieber bei einem langen Messer. Und ehe du mir damit den Bauch aufschlitzt lasse ich es erst mal, wo es ist. Faustkampf ist überaus praktisch, weil dir die Waffe schwerlich abgenommen werden kann. Also… wir wollen mal hoffen, dass du deine Hände behältst.«

»Jaa, das hoffen wir mal.«

»Das heißt: Ja, das hoffen wir mal, Meister.« Jos grinste. Ich eher ansatzweise.

»Den Titel verdien dir erst mal. Also, was muss ich machen?«

 

Eine halbe Stunde später hingen wir beide über dem Brunnen und schütteten uns eimerweise Wasser über den Kopf. Nachdem mein Stand einigermaßen sicher geworden war hatte Jos einfach damit angefangen, auf mich einzudreschen. Wenn ich kinderlos bleiben sollte, dann wusste ich, warum, aber leider hatte ich es Jos nicht zurückzahlen können. Ein paar schwache Treffen  an den Gliedmaßen und zweimal seitlich am Brustkorb, mehr hatte nicht durch Jos' Verteidigung hindurchschlüpfen können.

»Das war zwar nicht gerade herausragend, aber schon leicht über dem Durchschnitt – für Anfängerverhältnisse«, prustete Jos.

»Du verstehst es, einem Komplimente zu machen. Der Charme in Person«, entgegnete ich und kippte ihm eine Ladung Wasser ins gerade trocken gewischte Gesicht. Jos stülpte mir daraufhin seinen Eimer über den Kopf und wir torkelten lachend zu einer Rasenfläche, auf die ich mich fallen ließ.

»Warte einen Moment.« Jos verschwand im Stall, während ich mein Oberteil zurechtzupfte und feststellte, dass das Wort ›Moment‹ eindeutig zu lose definiert war. War ein Moment ein Augenblick, ein Wimpernschlag, oder konnte er sich auf mehrere Minuten ausdehnen?

Als Jos wiederkam hielt er etwas in der Hand, was, wie ich seinen Worten von vorhin entnahm, wohl ein Messer war. Ich wünschte, die Waffe würde ein bisschen romantischer aussehen, aber es war tatsächlich nur ein hässliches, glanzloses Stück Metall voller Scharten an einem abgewetzten Holzgriff.

Jos kauerte sich neben mich und erklärte mir, nachdem ich ihn von meiner völligen Unwissenheit überzeugt hatte, wie die einzelnen Teile hießen, wie das Messer ausbalanciert war und Gott weiß. Dann ließ er das Messer zurück in eine Scheide gleiten, legte es beiseite und gebot mir, aufzustehen.

Die Grundstellung war relativ schnell zu erlernen. Durch den Faustkampf hatte ich gelernt, dass ein fester, aber dennoch lockerer Stand wichtig war, der mir ermöglichte, schnell zu reagieren und im Notfall auszuweichen, dazu noch das Messer – so weit, so gut. Dann kamen einige Erklärungen und ich versuchte, sie mir einigermaßen einzuprägen. Erst mal in der Defensive bleiben, ehe ich genug gelernt hatte und meine Gegner einschätzen konnte, nicht Schneide auf Schneide, weil es die Stabilität der ganzen Klinge vermindern könnte, also möglichst versuchen, das Blatt des anderen Schwertes abgleiten zu lassen, aber, ABER, lieber das Schwert demolieren als sich den Kopf abschneiden lassen! Das schien mir mit der wichtigste Punkt zu sein, denn wenn ich darauf achtete, musste ich mir nicht allzu viele Gedanken um den Rest machen.

Schließlich zog Jos sein eigenes Messer, das in einer Scheide an seinem Gürtel hing. Jetzt würde es spannend werden! Ich betrachtete aufmerksam, wie er über die scharfe Schneide strich, den Griff mit seinen von der Arbeit rauen Fingern liebkoste und das – Moment. Die scharfe Schneide?

»Jos, wieso ist -« Weiter kam ich nicht, denn plötzlich sauste ein blonder Blitz auf mich zu und ich spürte zum zweiten Mal in weniger als 24 Stunden das kühle Metall an meinem Schlüsselbein. Eine Stimme mit gefährlichem Unterton raunte leise neben meinem Ohr: »Verrätst du mir jetzt dein Geheimnis?«