Es begann an einem Mittwoch, der eigentlich ganz normal war. Vielleicht ein bisschen besser als normal, denn wegen der Grippewelle waren unerwartet die letzten drei Stunden ausgefallen. Die Letzte für dieses Jahr, hoffte ich. Die Bushaltestelle war komplett leer – kein Wunder, die wenigsten hatte das Glück, schon um zwölf nach Hause zu dürfen. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbei raste, wirbelten meine Haare um meinen Kopf herum, und ich vermutete, dass ich inzwischen schon ziemlich zerstreut aussah, vor allem, weil vom gestrigen Waschen auch noch einige auseinandergepflückte Korkenzieherlocken meine Sicht versperrten.

Ich strich mir unruhig eine Strähne aus dem Gesicht und wippte von einem Fuß auf den anderen. Ich fuhr natürlich schon seit Jahren Bus, aber wenn ich einen so frühen nahm, kamen mir immer die gleichen nervösen Gedanken: Ist er vielleicht früher gekommen und ich habe ihn schon verpasst? Habe ich mich verguckt und die Linie fährt eigentlich nur in den Ferien? Kommt er wirklich sieben Minuten vor zwölf? Ich warf sicherheitshalber noch einen Blick auf den Plan, aber alles stimmte. ›Jetzt reiß dich zusammen, es ist gerade erst dreiundfünfzig geworden!‹, dachte ich und fischte schon mal meine Fahrkarte aus der Tasche. In diesem Moment fuhr der Bus um die Ecke. Ich atmete auf und lief schnell nach vorne zur Straße. Der Fahrer hielt, und als die Tür sich öffnete, schlüpfte ich schnell in den warmen Bus und setzte mich auf einen freien Platz in der Mitte. Es fuhren nur wenige Leute mit, vielleicht fünfzehn, die sich irgendwo in den hinteren Sitzreihen verkrümelt hatten.

Ich legte meine Tasche auf meinen Schoß und kramte meinen Spiegel heraus. Wie ich es mir gedacht hatte, sah ich so aus, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Seufzend suchte ich in meinem Portemonnaie nach irgendetwas zum Bändigen meiner Haare, und auch wenn es sich letztendlich auf eine einzelne Klemme beschränkte, war ich einigermaßen zufrieden. Ich machte mir nicht viel aus Frisuren und schleppte demzufolge eher selten passende Accessoires mit mir herum.

 

Als ich gerade nach meinem iPod suchte setzte sich auf einmal jemand neben mich. Ich fuhr überrascht hoch, denn eigentlich war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man sich immer auf einen freien Doppelplatz setzte.
Neben mir saß ein junger Mann, das Haar noch zerzaust vom Warten im kalten Wind, den Blick nach draußen gerichtet. Ich stutzte einen Moment – wieso eigentlich junger Mann? Er konnte kaum älter als ich sein höchstens achtzehn, aber irgendwie hatte ich in ihm sofort eine Reife erkannt, die seinem Alter schon voraus war. Als er seinen Blick abwandte und schweifen ließ, senkte ich schnell die Augenlider und tippte auf dem kleinen Display herum. Ich musste mich ja nicht auch noch in eine peinliche Situation ziehen, in der ich beschuldigt wurde, ihn anzustieren.

»Schwanensee?« Ich schluckte. Oh Gott, das war jetzt wirklich peinlich. Ich wusste gar nicht, was ich antworten könnte, ausgenommen »Ist hier eine versteckte Kamera?«. Die ganze Situation kam mir nämlich inzwischen recht seltsam vor.

»Tschaikowsky hat einige wirklich schöne Stücke geschrieben. Einer meiner Lieblings-Komponisten.« Ich drehte meinen Kopf minimal nach links und nuschelte, um nicht nach drei Sekunden ein Stockfisch-Image zu erlangen: »Ich mag seine Werke auch sehr gerne. Vor allem den Tanz der Zuckerfee und – naja, das Schwanenthema, Finale Andante; das letzte Lied im ersten Akt eben.« Ich hoffte, damit das Smalltalk-Bedürfnis meines Nachbarn nun gestillt zu haben; kaum zu glauben, dass es tatsächlich noch kommunikationsbedürftige Menschen in meinem Alter gab. Aber vielleicht war ich auch einfach nur außergewöhnlich still.

»Die Bekanntesten«, stellte er beiläufig fest. Ach ja? Super, wie schön du deine grauen Zellen angestrengt hast! Ich zog einen Kopfhörer aus dem Ohr und drehte mich zu ihm um.

»Ich mag auch viele seiner anderen Kompositionen! Es ist doch nicht meine Schuld, dass ich die Lieder favorisiere, die auch der Allgemeinheit bekannt sind«, erwiderte ich beleidigt. Ich gehörte zwar nicht zu den Menschen, die andauernd wie ein Wasserfall reden mussten, aber ich ließ mich doch nicht von irgendjemanden erniedrigen, der gerade mal drei Worte an mich gerichtet hatte!

»Verzeih mir; ich wollte dich damit nicht angreifen.« Überrascht sah ich ihn an. Ich hätte mit einer bissigen Antwort oder einem sarkastischen Kommentar gerechnet, aber nicht mit einer Entschuldigung für etwas derart Banales.

»Nein, macht nichts.«, stammelte ich, während er er seinen groben Wollschal aus dem Gesicht zog und mir mit einem Nicken zulächelte.

»Ich bin Tivon.« Ein seltsamer Name.

Ich hielt eigentlich wenig davon, meinen Namen dem nächstbesten Menschen unter die Nase zu binden, aber es wäre wohl unhöflich, jetzt zu schweigen. Außerdem war mein Blick gerade unerklärlicherweise von seinen wunderbar dunklen Augen gefangen, die mich interessiert ansahen.

»Tajana«, sagte ich leise. Tivon sah zum Fenster hinaus.

»Die Geheimnisvolle«, meinte er nach einer Weile.

»Wie?«

»Tajana bedeutet die Geheimnisvolle.«

»Wieso weißt du das?« Es behagte mir nicht, dass ein völlig Fremder einfach so, ohne besonderen Grund, die Bedeutung meines Namens kannte. Vielleicht hätte ich mich nicht gewundert, wenn ich Sarah oder Lena oder Nina hieße, aber Tajana? Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keine andere Tajana getroffen, warum sollte er diesen seltenen Namen dann kennen? Leider wusste ich nicht, ob das, was er sagte, tatsächlich stimme, denn ich war bis jetzt noch nicht auf die Idee gekommen, nachzusehen. Auch wenn ich es, als ich so darüber nachdachte, eigentlich ziemlich interessant fand.

Tivon zuckte mit den Schultern und schwieg. Ich betrachtete ihn von der Seite, nun um Einiges offener als zuvor. Seine Haare hatten sich inzwischen wieder beruhigt, auch wenn sie noch immer ein wenig wirr aussahen. ›Das ist die Original-Edward-Frisur‹, dachte ich schmunzelnd, ›nur dass es weniger bronzefarben als dunkelbraun ist.‹ Von seinen Augen konnte ich jetzt wenig sehen, aber ich wusste, dass sie von einem warmen, dunklen Braun waren. Eine gerade Nase, mittelvolle Lippen, kombiniert mit einer reinen, schwach gebräunten Haut – vielleicht ein bisschen zu blass, aber er war schon irgendwie attraktiv.

Als ich das dachte wandte ich mich wieder ab. Immer, wenn ich irgendjemanden für gut aussehend, sympathisch, was auch immer hielt, hatte er entweder schon eine Beziehung oder war, ehe ich mich traute, minimale Andeutungen zu machen, schon mit irgendeiner anderen zusammen, bevorzugt einem Mädchen aus meinem Bekanntenkreis. Vermutlich würde das nicht passieren, wenn ich ein wenig offener und nicht so misstrauisch wäre, aber ich konnte mich nie dazu überwinden, die Leute so direkt und ohne irgendjemand anders anzusprechen, und angesichts der Tatsache, dass man dauernd irgendwelchen Tratsch von dieser und jenen Schwärmerei hörte, verschwieg ich sogar guten Freunden meine Vorlieben, um nicht selber zum Lästerobjekt zu werden.

Als ich nach einer Weile einen Blick aus dem Fenster wagte, sah ich, dass es bis nach Hause nur noch acht Minuten waren. Was »nur noch« auch immer war. Acht Minuten können sich ziemlich in die Länge ziehen, zum Beispiel, wenn man in einer mündlichen Englisch-Kontrolle über Video-Spiele, Mobbing oder Schuluniformen reden muss.

Ich starrte zwischen die Bäume. Es herrschte gerade Tauwetter, und alles war nass, graubraun, trüb, untröstlich. Wassertropfen liefen über die Scheibe und zitterten im Fahrtwind.

 

Als ich schon eine Weile aus dem Fenster gesehen hatte bemerkte ich plötzlich eine Bewegung. Mein Kopf fuhr ruckartig nach oben, und für einen Moment meinte ich, einen weißen Hirsch zwischen den Bäumen zu sehen. Er sah direkt zu mir, als könnte er durch mich hin durch in meinen Kopf blicken und die Gedanken, die darin herumspukten, lesen.

Einen Wimpernschlag später war der Bus weiter gefahren, der Hirsch verschwunden. Ich lehnte mich verwirrt zurück.

»Hast du ihn gesehen?«, fragte Tivon unvermittelt.

»Wen?«, erwiderte ich.

»Den weißen Hirsch.« Seine Stimme klang verheißungsvoll, als würde dieser Anblick mein Schicksal verändern.

»Ähm… Ja. Den weißen Hirsch? Ist dieser Eine besonders?« Ich erinnerte mich düster an ein Referat, dass ich an der Grundschule einmal gehalten hatte. So weit ich wusste, hatte ich erzählt, dass weiße Hirsche gar nicht so besonders waren. Natürlich sah man sie seltener als ihre braungefärbten Familienmitglieder, aber um genau zu sein: man sah ja auch diese nicht sehr oft.

Tivon drehte sich zu mir um, und als ich in seine Augen sah, meinte ich, verbrennen zu müssen. Es war nicht wie bei dem Hirsch, er sah nicht in mich hinein – aber er schien jedes noch so kleine Detail aufzunehmen, als würde ich geröntgt werden. Ich fühlte mich ungeschützt, entblößt; als wäre ich nackt.

Das Seltsamste war aber, dass er mich einfach nur ansah. Er sprach kein Wort, gab keinen Laut von sich – wenn seine Schultern sich nicht in einem regelmäßigen Rhythmus auf und ab bewegt hätten wäre ich sogar davon ausgegangen, dass er nicht mehr atmete. Ich wusste nicht, woher ich die Stärke nahm unverwandt zurück zu blicken. Vielleicht, weil seine Augen mich diesmal wirklich fesselten.

Die Zeit schien beinahe still zu stehen, aber auf einmal riss ich mich los.

»Ich muss hier aussteigen«, sagte ich mit zittriger Stimme. Das war nicht die Wahrheit, meine Haltestelle war erst die nächste, aber ich wollte so schnell wie möglich hier weg.

Tivon wandte sich ab und stand auf. Ich holte tief Luft, drängte mich an ihm vorbei und sprintete zur Tür. Im Vorbeigehen drückte ich auf den Stopp-Knopf, und wenige Sekunden später zwängte ich mich durch die halb geöffnete Tür ins Freie. Die kalte feuchte Luft schlug mit entgegen, aber ich sog sie ein, als wäre sie meine letzte Rettung. Der Bus fuhr an, und ich konnte förmlich spüren, wie sich zwei Pupillen in meinen Rücken bohrten.

 

Nach zwei Kilometern durch Wind und Wetter war mir mehr als kalt. Ich konnte kaum den Schlüssel ins Schloss stecken, und als die Tür endlich offen war huschte ich schnell herein und warf die Tür mit einer schwungvollen Bewegung zu.

Ich zog meine Stiefel und meinen Mantel aus, warf meinen Rucksack in mein Zimmer und ging in die Küche, um mir einen Tee zu machen. Während der Wasserkocher noch vor sich hin brodelte klappte ich meinen Laptop auf und fuhr ihn hoch. Ich wollte wissen, ob das, was Tivon bezüglich meines Namens gesagt hatte, tatsächlich stimmte.

In der Zeit des Hochfahrens brühte ich schnell den Tee auf und trug ihm zum Tisch. Inzwischen wurde schon mein Desktop angezeigt. Ich klickte auf meinen Browser und tippte in der Suchzeile »Bedeutung Tajana« ein. Sofort wurden einige Links angezeigt, und ich öffnete die ersten zwei nebeneinander.

»Tajana = Geheimnis; Die Geheime«

»das Geheimnis, die Geheimnisvolle | Gottes Gnade«

Ich schluckte und klickte die nächsten Seiten auf, aber hier fand sich nichts mehr zu Bedeutung. Ich seufzte leise und fuhr mit der Maus zu dem kleinen Kreuzchen, um die Fenster zu schließen, doch plötzlich hielt ich inne und markierte stattdessen das Wort Tajana in der Suchzeile. Einen Moment zögerte ich, aber dann tippte ich stattdessen »Tivon« ein.

»Der die Natur liebt«

»Naturliebender«

»Liebhaber der Natur«

Ich starrte einen Moment auf die Worte und schüttelte dann den Kopf. Ich weiß nicht, was ich erwartete hatte – der Mysteriöse vielleicht? – aber »der die Natur liebt«…

Ich löschte den Verlauf, als hätte ich eine Sünde begangen, die ich vertuschen musste, und suchte erst dann unter dem Stichwort »weißer Hirsch« weiter. Ich fand einige unwichtige Informationen, aber als ich unseren Kreis hinzufügte zeigte er nur noch irgendwelche Restaurants an, weit weg von hier. Enttäuscht klappte ich den Laptop zu, klemmte ihn mir unter den Arm und bugsierte ihn zusammen mit dem Tee in mein Zimmer. Dort stellte ich beides auf dem Schreibtisch ab und ließ mich auf meinen Drehstuhl fallen, von wo aus ich nach meinem Rucksack angelte. Das Hausaufgabenheft sah wunderbar leer aus, nur ein paar Matheaufgaben, die ich schon in der Stunde fertig gerechnet hatte. Ich legte es zurück und nahm stattdessen das Buch vom Nachttisch, mit dem ich gestern begonnen hatte. Damit kuschelte ich mich mit einer Wolldecke und meinem Tee in den Sessel und begann zu lesen. Schon nach wenigen Augenblicken befand ich mich in einer anderen Welt, in der all meine Gedanken von einer seltsamen Begegnung im Bus fortgeweht waren wie die Samen einer Pusteblume.