Diese Geschichte ist für den Herbstwettbewerb bei June. Vorgegeben waren drei Satzanfänge, ich habe mich für Es war ein düsterer und grauer Herbstmorgen... entschieden.

Herbstkind

 

Es war ein düsterer und grauer Herbstmorgen, an dem Alessa auf das Feld hinausfuhr. Eigentlich wusste sie selbst nicht, was sie bei diesem Wetter dazu bewogen hatte, zumal es nicht besonders gut für ihre Querflöte war, die sie in ihrem alten Rucksack verstaut hatte und deren Etui immer wieder zwischen ihre Schulterblätter stieß.

Mitten auf dem Pfad hielt sie an, lehnte das Fahrrad gegen einen Baum und holte die Flöte heraus. Sie war noch warm von zu Hause, aber Alessa wusste, dass sie wegen der Kälte schon bald nicht mehr spielen konnte, dass sie nur wenige Minuten hatte.

Mit klammen Fingern setzte sie das Instrument zusammen, hob es an die Lippen und begann zu spielen. Eine einfache Melodie, wehmütig, ein Abschied. So wie sich die welken Blätter inzwischen von den Bäumen befreiten, oder wie ihr Vater sich von seiner Familie getrennt hatte, mit »Frrrancesca« nach Italien gezogen war, wo es sicherlich so warm war, dass das Laub sich nicht von den Ästen löste. Weit fort.

Die Flöte stockte einen Moment, setzte wieder an, und Alessa spürte, wie ihr eine Träne die Wange hinab lief. Sie spürte auch, wie der Wind ihr Haar zerzauste und dass hinter ihr jemand auf sie zulief, aber sie drehte sich nicht um, nicht mal, als ihr eine Hand auf die Schulter gelegt wurde. Sie musste das Lied noch zu Ende spielen.

Der letzte Ton verklang irgendwo zwischen den Nebelschwaden und erst jetzt wagte sie es, sich umzudrehen. Hinter ihr stand ein Junge, oder ein junger Mann, kaum älter als sie, und seltsamerweise wusste sie, dass er aus einem besonderen Grund hier war und nicht zu den Menschen gehörte, die sie kannte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er ein Mensch war.

»Komm mit mir«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln. Er wartete geduldig, bis sie die Flöte auseinandergenommen und verstaut hatte, ehe er einen schmalen Wildpfad zwischen den Bäumen einschlug.

»Was willst du mir zeigen?«, fragte Alessa vorsichtig. Sie erwachte langsam aus ihrer träumerischen Melancholie und ihr wurde bewusst, wie schrecklich leichtsinnig es war, einem Fremden in den Wald zu folgen. Aber war es leichtsinnig, auf sein Gefühl zu hören?

»Sieh dir die Blätter an.« Er machte eine ausschweifende Handbewegung und sie betrachtete sie müde.

»Sie sind braun und trocken und alt. Verbraucht.« Er drehte sich zu ihr um und runzelte die Stirn. In dem Moment erinnerte er das Mädchen selbst an das Laub. Zerknittert und farblos, die wässrig braunen Augen ausdruckslos und der blasse Mund schmal zusammengepresst. Er schüttelte langsam den Kopf und ging weiter, bis sie eine kleine Lichtung erreichten. Nebel lag darauf, grau und traurig.

»Bist du das?« Alessa hob fragend eine Augenbraue. »Sieht so dein Inneres aus? Welk und trüb und verschwommen?« Diesmal war es an ihr, die Stirn zu runzeln.  Verglich er sie mit einem trüben Oktobertag?

Vielleicht hatte er sogar recht. Sie fühlte zumindest nicht wie ein frischer Frühlingstag voller zwitschernder Vögel und blühender Blumen in der warmen Sonne. »Und? Soll das heißen, ich bin ein Herbstkind?« Es war, als läge ihr das Herz auf der Zunge, sie sprach Dinge aus, auf die sie in Gedanken nicht einmal gekommen wäre.

»Wenn du weißt, was es bedeutet, ein Herbstkind zu sein?«, fragte er schmunzelnd. »Schließe deine Augen. Nur kurz.« Sie warf ihm einen zögernden Blick zu, schlug dann aber gehorsam die Augen nieder und zählte leise bis drei, ehe sie sie wieder öffnete.

 

Ein goldgelbes Blatt wirbelte an Alessas Wange vorbei und verfing sich in ihrem Haar, das in der Morgensonne ebenso golden strahlte. Die Lichtung war in warmes Licht getaucht, und auf dem Boden lagen Blätter in den verschiedensten Schattierungen. Rot, gelb, orange, braun und grün, dazwischen verstreut Kastanien, Eicheln und Bucheckern. Eine sanfte Brise ließ kleine Laubwirbel entstehen und es ertönte ein leises, beruhigendes Rascheln.

»Auch das ist der Herbst«, sagte er, und Alessa konnte an seiner Stimme hören, dass er lächelte. Sie drehte den Kopf und wunderte sich nicht mal wirklich, als sie ein vertrautes, aber dennoch fremdes Gesicht erblickte, mit rotbraunen Haaren und karamellfarbenen Augen, die Lippen nicht mehr blass sondern so rot wie eins der schönsten Ahornblätter.

 

Kein Mensch, nein, sondern ein Herbstkind, wie sie es war. Manchmal vielleicht düster und voller Nebel, aber in Wirklichkeit strahlendes Gold.

Alessa, ich... Von heute Nachmittag, muss ein sehr inspirierendes Shooting gewesen sein. Das ist der Herbst, den das Sommerkind in mir mag.
Alessa, ich... Von heute Nachmittag, muss ein sehr inspirierendes Shooting gewesen sein. Das ist der Herbst, den das Sommerkind in mir mag.

Auswertung von June:

 

Deine Kurzgeschichte ist wunderbar, und das mit den Herbstkindern ist eine tolle Idee. Für einen goldenen Herbst :)

 

du bist weiter :)

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Kommentare: 3
  • #1

    June♠ (Freitag, 01 November 2013 15:24)

    Schön :)

  • #2

    silbernebel (Samstag, 31 Mai 2014 18:24)

    Wow, das ist sehr schön und anschaulich geschrieben.
    Durch die Beschreibungen kann man sich gut ein eigenes Bild machen und es ist geheimnisvoll..zauberhaft!
    Der Herbst hat schon was magisches:)

  • #3

    Flu (Sonntag, 31 August 2014 13:38)

    Ich finde den Text zu *wie schreibt man gut* wirklich wahr...aber man möchte schon ein Feedback bekommen wobei das wirklich schwierig ist.Meist kommen übliche Standards wie Superschön, Toll-ehrlich gesagt weiß ich auch oft nicht, was ich schreiben soll, ich möchte auch gar nicht kritisieren.
    Und bei dir schon mal gar nicht, ich wüsste auch nicht was... das liest sich immer einfach toll(da ist es wieder), es ist eine phantasievolle, warme und fliessende Geschichte, Kopfkino geht an und produziert wundervolle Bilder. Ich liebe diese Geschichte und den Titel(und das Bild dazu auch:))