Ich habe diese "Geschichte" eigentlichtlich im Rahmen eines Wettbwerbs geschrieben – wie sollten die Wirkung des Herbstes auf uns und unsere Reaktion auf seine Ablösung durch den Winter beschreiben – aber ich bin nicht sicher, ob ich diesen Text wählen soll. Er gefällt mir, nur... Ich werde nochmal darüber nachdenken müssen.

Jonathans Brief

 

Sie ließ sich auf dem schäbigen alten Stuhl nieder und zupfte ein Stück der abblätternden blauen Farbe von der Rückenlehne, ehe sie nach dem Füllfederhalter und ihrem Schreibpapier griff. Während die meisten Gegenstände im Zimmer von einer im kühlen Licht bedrückend wirkenden Staubschicht bedeckt waren, hatte sie ein besonderes Auge auf ihre Schätze, strich mit sanften Fingern über das raschelnde Pergament und pustete die kleinsten Körnchen von seiner Oberfläche.

Sie hauchte in ihre klammen Finger, warf einen letzten Blick aus dem trüben Fenster und begann, die ersten fein geschwungenen Buchstaben in schwarzer Tinte niederzuschreiben.

 

Jonathan,

bitte, mache dir keine Sorgen um mich. Ich wusste, dass es für euch nicht leicht sein würde, und ich will nicht lügen und sagen, dass ich es überstanden habe, denn das habe ich nicht und ich werde meinen einzigen Bruder nie vergessen können, Gott habe ihn selig. Aber ich werde nicht aufgeben.

Mir geht es gut, ich lebe in Sicherheit, und ich bitte dich, deine Angelegenheiten fürs Erste in den Vordergrund zu stellen.

Die Ernte ging wie gewohnt vonstatten, das Korn lagert in den Scheunen und wir sind gewappnet für die Monate des Winters. Ich spüre ihn schon, seine ersten kalten Finger, die er nach mir ausstreckt… Das Dorf wehrt sich dagegen, niemand will akzeptieren, dass er so früh kommt.

Erinnerst du dich noch an den Abend, bevor du und Isaak losgezogen seid? Wir sind zu dritt an den Fluss gegangen, nahe dem Wäldchen, mit dem frischen Laib Brot von Mutter Wilhelmina und ihrem hausgemachten Sirup. Die Sonne schien so warm durch die Blätter, und wenn Wind aufkam, dann haben sie sich bewegt und das Licht hat zwischen ihnen gefunkelt, schöner als jeder Diamant. Ich habe für euch gesungen, Isaaks Lieblingslied; »Und machen ein Gehäuse, so flüstergrün und dicht; und in der Erlen Reuse fängt sich am Bache das Licht.« Es hatte so gut gepasst zu diesem Abend, obgleich den Fluss nur Birken säumen und keine Erlen.

Du hast getanzt zwischen ihnen, wie ein Kind, so froh… Ich wünschte, diese Freude wäre auf ewig in deinem Herzen und müsste nicht getrübt werden durch Isaaks Tod.

Deine Zeilen erreichten mich mit dem ersten Schnee. Der Bach, an dem wir saßen, ist zugefroren, die Blätter sind von einem weißen Tuch bedeckt. Es ist kalt ohne euch, kalt und farblos, aber ich lasse nicht zu, dass ich mich dem ergebe. Ich harre aus, bis der Frühling kommt, oder du. Der Winter hat mir, uns allen, so viel genommen, aber er wird einmal vergehen, und Jonathan, wenn wir zwischen den Tulpen im Gras sitzen, eines Tages, dann werden wir sehen, dass er einen Neuanfang darstellt, dass er das Land reingewaschen hat, bevor es nochmals erstrahlen kann.

Ich warte auf diesen Tag.

In Liebe, Natalia

 

Eine Träne löste sich von ihren bebenden Wimpern und fiel auf das Blatt. Sie saß bewegungslos da und betrachtete den Fleck, als er sich ausbreitete und schließlich langsam trocknete. Nur ein kleiner fransiger Rand am letzten Buchstaben ihres Namens deutete darauf hin, dass die Träne jemals da gewesen war.

Mit einem tiefen Atemzug faltete sie das Pergament und versiegelte es, um es dem Mann zu überreichen, der es zu Jonathan bringen würde.

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Kommentare: 1
  • #1

    Lilli❤ (Samstag, 31 Mai 2014)

    Wunderschön geschrieben. Der Brief ist voller Trauer und Sehnsucht, aber gibt trotzdem Hoffnung auf Wiederkehr.