Ich habe in letzter Zeit ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich schon ein paar mal darauf angesprochen wurde, wie ich es denn wagen kann, verheißungsvolle Roman-Anfänge à la »Ej Narièl« hochzuladen und dann nicht weiter zu schreiben.

Nein, so war das natürlich nicht formuliert. ;)

Allerdings hatte ich das Gefühl, ich müsste mal wieder etwas hochladen, auch wenn es leider kein Roman ist. Das bleibt erst mal streng geheim, ja?

Also kommt hier eine Geschichte, die ich mal für die Story-Olympiade zum Thema »Stille« geschrieben habe. Inzwischen fiele mir da mehr ein, aber ich liebe diese Meer-Themen und da ich inzwischen ganz offiziell durchgefallen bin (→ den Kommentaren nach eindeutig zu vage formuliert: Ich wurde nicht ausgewählt, was ich inzwischen aber ganz und gar nicht mehr schlimm finde), kann ich euch all das nach sieben Monaten wohl hier ausbreiten. Ich habe noch zwei Wettbwerbs-Geschichten, die zu Cyber-Mobbing ist vielleicht gar nicht mal so schlecht... Aber das kommt dann nach, wenn ich noch mal drüber gelesen habe.

Seelenlieder

oder

Melodie der Stille

 

»Sie war kurz davor, ihn in ihrer tödlichen Umarmung in die Tiefe zu ziehen, und er wäre -«

Das waren die letzten Worte, die ich von ihm gehört hatte. Ehe er seinen Satz vollenden konnte erschütterte ein geräuschvolles Poltern die ungezwungene Atmosphäre der Mensa und ich wandte verwirrt meinen Blick umher, auf der Suche nach der Ursache des Lärms.

Auf der anderen Seite des Raums stand eine junge Frau zwischen ungläubig starrenden Studenten, vor ihr ein umgekippter Tisch. Als sie die Hand mit der Pistole hob und hysterische Sätze zu kreischen begann wurde ich ebenso blass und klammerte mich an der Unterseite meines Stuhls fest. Alle meine Gedanken flohen für einen Moment vor der Angst, ehe meine Vernunft mir befahl, langsam unter den Tisch zu kriechen.

Wenige Sekunden später fiel der erste Schuss.

Der zweite. Endlich Schreie.

Ich kniff abwechselnd die Augen zu und riss sie wieder auf, angetrieben von der Furcht vor der Unwissenheit und den Kugeln, die den Tisch neben meinem zum Splittern brachten.

 

Es hatte drei Minuten gedauert, obgleich sicher jeder Anwesende, den ich gefragt hätte, eine längeren Zeitspanne beteuern würde. Allein der kurze Moment, in dem der Tisch umgestoßen wurde, die Ruhe vor dem Sturm, schien mehrere Herzschläge gedauert zu haben, obwohl es doch nur ein Wimpernschlag gewesen war. Diese schleichende Stille, die nur auf die Explosion gewartet hatte und in meinem Kopf genauso deutlich eingebrannt war.

 

Ich besuchte die Verletzten im Krankenhaus. Acht, und drei Tote, die Trägerin der Waffe inbegriffen. Sie hatte sich in den Mund geschossen, als die Polizei in den Raum geströmt kam, und in ihren Augen hatte das Bangen in diesem letzten Augenblick am deutlichsten gefunkelt.

Ich kannte einige vom Sehen, ein bleiches Mädchen, dessen strohblondes Haar zerzaust von seinem Kopf abstand, nickte mir mit einem schwachen Lächeln zu. An einem der Betten blieb ich stehen und betrachtete die reglose Gestalt. ›Was ist dann geschehen?‹, fragte ich ihn in Gedanken. ›Hat sie ihn mit sich genommen, konnte er ihr widerstehen? Wirst du die Geschichte zu Ende erzählen?‹

»Sie kennen ihn?« Ich fuhr hoch und blickte in das gerötete Gesicht einer Krankenschwester, die lautlos hinter mich getreten war. »Hatte bisher noch nicht so viele Besucher.« Sie deutete auf zwei kleine Sträußchen auf seinem Nachttisch, die neben der Blumenwucht der Brünetten neben ihm jämmerlich wirkten.

»Ja«, sagte ich schlicht und wich einen Schritt zurück, um nicht ihre beengende Nähe spüren zu müssen.

»Er war schon ein paar Mal wach«, erzählte die Schwester, während sie ein angeklapptes Fenster schloss, »aber er redet nicht. Weder mit uns noch mit seiner Familie, das ist der Schock.« Ich biss mir auf die Unterlippe. Kein Ende. Nur Fragen, die nicht einmal mir gehörten, sondern seiner kleinen Schwester, für die seine Geschichte bestimmt war. Nicht für die stille Lauscherin am anderen Tisch.

Die Schwester redete weiter, von der baldigen Entlassung, dass es physisch nicht so schlimm war, doch ich eilte bereits zur Tür, wünschte ihr ein schönes Wochenende und verließ so schnell wie möglich das Krankenhaus.

 

Ich saß mit angezogenen Beinen auf der schmalen Klippe und leckte einen Gischttropfen von meiner Oberlippe. Wenn die warme Zeit vergangen war und das Wasser für die letzten Touristen zu kalt wurde, hatte ich diesen Ort wieder für mich allein. Vom Strand der Bucht aus nicht einsehbar, mit Blick auf das offene Meer, breitete sich eine abenteuerliche Felslandschaft aus, die von vielen schmalen Pfaden durchzogen war. Die Besucher blieben meist auf den Hauptwegen, aber hin und wieder verirrten sie sich hierher und betrachteten neben den schäumenden Wogen eine junge Frau, die sich selbst noch für ein Mädchen hielt, dem Spiel der Elemente zusah und die störenden Stimmen der Fremden hartnäckig ignorierte.

Niemand kam auf die Idee, die Felsen hinter ihrem Rücken ein Stück weiter hinunter zu klettern und die natürliche Grotte zu betreten, die weder in den Reiseführern erwähnt wurde noch unter den Einheimischen bekannt war. Meine Höhle.

Aber ich hatte das Gefühl, dass er sie auch kannte. Immer, wenn er seiner kleinen Schwester das dunkle Wasser beschrieb, die flirrenden Schatten unter der Oberfläche, die spitzen Felsen und dunklen Nischen, aber vor allem den Pfad, der einmal um die beinahe kreisrunde Vertiefung führte, in der sich das Wasser sanft kräuselte – immer dann erinnerte mich jedes Detail an die Wirklichkeit.

Vielleicht überraschte er mich deshalb nicht, als er plötzlich hinter mir stand, barfuß, die Schuhe noch in der Hand.

»Du kennst die Höhle, oder? Du erzählst deiner Schwester davon.« Er nickte mit regloser Miene und betrachtete mich, bis sein rätselhafter Blick an meinen Augen hängen blieb. »Und deine Geschichte… woher hast du sie? Denkst du sie dir aus?« Er antwortete nicht, und ich begriff erst in diesem Moment, dass er es auch in naher Zukunft nicht tun würde. »Aber… du denkst sie dir doch aus?« Er schüttelte den Kopf, und seltsamerweise glaubte ich es ihm. Vielleicht, weil ich die Stimmen so oft selbst gehört hatte, wortlose Gesänge, die der Wind zu mir herüber geweht hatte.

Das Lied einer Sirene, zum Sterben schön.

»Aber – du bist trotzdem hier? Warum locken sie dich nicht?« Er machte eine vage Handbewegung und öffnete die Lippen, ohne zu sprechen, aber ich konnte es nicht deuten. Auf meinen fragenden Blick hin zuckte er die Achsel, stellte seine Schuhe auf den Boden und zwängte sich ohne irgendeine Vorwarnung an mir vorbei zu der Felswand, an der ich und anscheinend auch er für gewöhnlich hinunter kletterten.

»Darf ich dich begleiten?« Eine absurde Frage, als könne er Besitzansprüche anstellen, aber zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, nicht die schweigsame Einwohnerin zu sein sondern der Tourist, der auf fremdem Revier wandert. Als er nickte streifte ich meine Schuhe ab und kletterte ihm hinterher bis zu der Spalte, die in die Höhle führte.

Es wunderte mich nicht, dass ich die Meermädchen noch nie gesehen hatte. Früher hatte er seiner Schwester erklärt, dass sie sich nur zeigten, wenn sie Männer erblickten, aber ich hatte gedacht, er würde es erzählen, damit sie nicht auf den Gedanken kam, allein nach ihnen zu suchen. Als ich darüber nachdachte erinnerte ich mich vage daran, dass er ihr erklärt hatte, weshalb ihn die süßen Melodien nicht auf den geheimnisumwobenen Grund der Grotte lockten, aber ich war mir nicht mehr sicher. ›Ein eigenes Lied…?‹

Ich hörte sie schon von hier aus singen, deutlicher als sonst; dass sie ihre Stimmen hoben, musste an ihm liegen. Er blickte noch einmal über die Schulter, vermutlich, um sich zu vergewissern, dass ich noch da war, ehe er in dem Spalt verschwand. Das Lied schwoll an, neue Stimmen setzten ein und erzeugten einen skurrilen Wechsel aus Dur und Moll, der langsam, aber sicher zu einem melancholischen Stück wurde, dass ich auch ohne Sprache verstand. Die Sehnsucht danach, frei zu sein, Freundschaft und Liebe zu finden, anstatt junge Männer in den Tod zu verführen.

Ich hörte ihnen eine Weile von hier draußen zu und blendete sämtliche andere Geräusche aus, bis ich nur noch die wehmütigen Noten in meinem Kopf wahrnahm und wie in einem Rausch die Grotte betrat. Nur noch dieses Lied, der träumerische Klang, für immer…

Plötzlich mischte sich ein viel zu tiefe Stimme in das Lied, so rau, zerstörte die Akkorde, machte es kaputt! Ich wirbelte herum – und verpasste Amarin dabei einen saftigen Kinnhaken, den er mit einem leisen Stöhnen und einem schmerzverzerrten Gesicht auf sich nahm. Ich riss die Augen auf; einmal, weil es um Himmels Willen nicht meine Absicht gewesen war, und außerdem, weil er gerade einen Laut von sich gegeben hatte! Keine Worte, aber trotzdem nahm es mir die Befangenheit in diesem seltsamen Moment von mir. Und überhaupt… er musste gerade in das Lied gesungen haben!

Verdutzt bemerkte ich, dass die Grotte plötzlich in Stille getaucht war. Die Sirenen waren verstummt.

»Danke«, grummelte Amarin und betastete mürrisch sein Kinn. »Nächstes Mal lass ich sie dich mitnehmen. Ich wusste gar nicht, dass Frauen auch so auf sie reagieren.« Ich schnappte nach Luft, ehe mir bewusst wurde, wie lächerlich das war.

»Du redest doch noch?«

»Um nicht mit dem Gewissen zu leben, dass ich ihnen deine Seele ausgeliefert habe.«

»Aber…« Ich vollendete meinen Satz nicht und wandte meinen Blick von ihm ab. Ein gewaltiger Fehler.

In dem natürlichen Becken zu meiner Rechten, kaum einen halben Meter von mir entfernt, schwamm eine Sirene. Sie reckte ihren zierlichen Kopf anmutig aus dem Wasser und strich sich gerade eine Strähne ihres goldblonden Haares aus dem Gesicht, während ihre strahlend grünen Augen mich eindringlich musterten. Unter der Wasseroberfläche konnte ich ihren blassen Oberkörper und einen graugrünlichen Fischschwanz erkennen.

Ich machte einen Satz nach hinten und presste mich an die Felswand, während sich vor meinem inneren Auge ein Schreckensszenario abspielte, in dem die Nixe mit ihren bleichen, kalten Fingern meinen Knöchel packte, mich in die Tiefe zog und dabei die ganze Zeit ihren stechenden Blick auf mir ruhen ließ.

»Lynn – du heißt doch Lynn, oder?« Ich nickte abwesend. »Sie lässt dich in Ruhe, wenn du dich nicht auf sie einlässt.«

»Wie?« Ich schaffte es, mich von ihrem atemberaubend schönen Anblick loszureißen und mich Amarin zuzuwenden.

»Sie sind nicht gewalttätig, das habe ich doch erzählt. Sie töten Freiwillige, die sich ihnen hingeben.« Er hat es erzählt? Also hatte er die stille Lauscherin am anderen Tisch jedes Mal bemerkt. Ich blinzelte noch einmal zu dem Fischmädchen herüber, das mich weiterhin schweigend anblickte. Die Wesen des Meeres waren seit Anbeginn ihrer Geschichte dazu verdammt, niemals Worte über ihre Lippen zu bringen.

»Was ist geschehen?«

»Du hast dich in ihr Lied wickeln lassen und warst kurz davor, ins Wasser zu stürzen.« Ich betastete meine Haarspitzen. Nass. »Obwohl ich dachte, du hättest zugehört…«

»Hab ich ja.« Ich hockte mich neben ihn auf den kalten Fels, möglichst weit entfernt von der Nixe. Inzwischen bemerkte ich weitere Silhouetten, die langsam aus den Wellen auftauchten, allesamt abgöttisch schön, stumm und gefährlich.

»Dann sing dein eigenes Lied. Das oder zerstöre ihres, wie ich es eben getan habe, am Ende läuft es auf das Schweigen hinaus.«

»Danke.« Ich klemmte meine kalten Fingerspitzen in die Kniekehlen und lauschte unserem Atem, der neben dem leisen Rauschen der Meeres draußen das einzige Geräusch war.

»Was geschah mit den beiden? In der Geschichte?«, fragte ich nach einer Weile.

»Ich weiß es nicht. Die Geschichten gehören meiner Schwester. Sie enden hier, bei den Seelen.« Er nickte in Richtung des düsteren Wassers.

»Kann man sie wirklich nur erlösen, wenn man zu ihnen taucht? Es ist doch unglaublich tief, nicht?«

»Wenn eine freie Seele das Wasser berührt, schwimmen sie hoch und versuchen, sie zu retten. Aber sie sind körperlos, was können sie schon tun?« Ich seufzte.

»Aber wenn man sie rettet, bis auf die letzte… Dann sind sie alle frei? Die Seelen und die Sirenen an diesem Ort?«

»Sicher. Aber du kannst nicht allein zu ihnen. Zu den Seelen, ja, aber die Sirenen sehen keinen Unterschied. Es ist egal, ob du sie erlösen willst oder dem Lied erliegst, sobald du unter Wasser bist, ziehen sie dich mit sich.«

»Du bist nicht allein«, antwortete ich zögernd, woraufhin seine türkisblauen Augen mich genau so intensiv fixierten wie die des Meermädchens. Aber anstatt es mir auszureden erwiderte er bloß:

»Es ist deine Entscheidung, ob du dein Leben für fremde Seelen riskierst.« Ich betrachte die Schemen der Wasserwesen.

»Wie viele sind es? Seelen und Sirenen?«

»21 Sirenen und so viele Seelen, wie sie in den Jahrtausenden ihrer Existenz Menschen ertränken konnten. Mehr als 500 sicherlich.« Ich schluckte. Mindestens 500 Seelen, die in diesen Felsen gefangen waren. Die niemals jemand erlöst hatte.

Es fühlte sich so an, als hätte in diesem Moment jemand in meinen Gedanken eine Verbindung hergestellt, die Verantwortung und Mut in sich vereinte.

»Was müssen wir tun, wenn wir tauchen?«

 

Wenige Minuten später stand ich an der Kante zum Wasser und umklammerte Amarins Hand. »Du darfst um keinen Preis loslassen, Lynn«, schärfte er mir ein letztes Mal ein. »Ertrinken und von einer Sirene ersäuft werden liegen weit auseinander.« Ich nickte und blendete das leise Summen der Sirenen aus, die einen beinahe unentschlossenen Eindruck machten. Ich schaffte es wirklich.

»Unter Wasser singen sie nicht mehr.«

Kurz darauf umhüllten mich die kühle Dunkelheit und der Zauber der Stille.

 

Ich war schon immer eine gute Schwimmerin gewesen, aber Amarin war mir mindestens ebenbürtig. Mit kräftigen Zügen tauchte er in die Dunkelheit hinab und ich folgte ihm, so rasch es ging. Die Sirenen schnellten in weiten Bögen um uns herum, die reinen Gesichter wütend verzerrt. Ihr Dasein, wie er so oft erklärt hatte, zwang sie dazu, Wesen mit Seele zu hassen, und ihre Unfähigkeit, sich denen der Eindringlinge zu bemächtigen, schien sie zur Raserei zu bringen.

Ich spürte inzwischen die ersten schwachen Strömungen, Schutzschilder der Nixen, die einen halben Meter tiefer schon um Einiges stärker wurden. Und ich sah den Onyx.

Wer glaubt, dass eine Farbe wie schwarz nicht strahlen kann, der irrt sich. Selbst in der unheimlichen Finsternis des Wassers schien der faustgroße Stein vor Dunkelheit zu glühen. Ein Sog, kräftiger als die bisherigen, riss Amarin und mich von ihm weg, aber ich bewegte meine Gliedmaßen wie mechanisch weiter, nur darauf bedacht, unser Ziel zu erreichen, den Seelenstein an mich zu nehmen…

Eine Sirene mit rötlich schimmerndem Haar huschte an uns vorbei, immer wieder, öfter als die anderen. Ihre sinnlichen Lippen waren leicht geöffnet und offenbarten ein perlweißes Gebiss mit scharfen Zähnen, zwischen denen eine blassblaue Zunge unruhig umher zuckte.

An diese Details konnte ich mich nur erinnern, weil sie mir direkt in die Augen gesehen hatte, als sie auf uns zugeschossen kam und mit ihrem Fischschwanz meinem Handgelenk einen brutalen Schlag versetzte.

Und ich ließ los.

Für einen Moment herrschte in meinem Kopf die gleiche Stille wie in meiner Umgebung, dann wandte ich mich erschrocken um und sah, wie sich das rothaarige Biest mit gefletschten Zähnen auf Amarin stürzte und den sich heftig wehrenden Körper in die Tiefe zog. Seine Lippen verzogen sich zu einem lautlosen Schrei und Luftblasen glitten zwischen ihnen hervor wie sein Lebensodem. Ich spürte, wie meine Luft knapp wurde, aber ich wollte ihm hinterher schwimmen, ich konnte ihn nicht im Stich lassen, musste – um Himmels willen, nein!

Mit einem Ruck drehte ich mich um und tauchte auf den Onyx zu. Meine Glieder brannten und ich konnte sie kaum noch spüren, während meine Lunge sich unter einem starken Druck wie ausgepresst anfühlte, aber jetzt, wo mein rechter Arm frei war, näherte ich mich dem Seelenstein rascher als zuvor. Noch ein Zug…

Direkt vor mir erschien eine Sirene.

Die erste Meerjungfrau, die ich gesehen hatte, deren Augen nun giftgrün blitzten und aggressiv zusammengekniffen waren, während das goldene Haar in alle Richtungen waberte; sie war auch die letzte.

Meine Hand schloss sich um den Seelenstein und ein Schrei zerriss die Stille, gefolgt von einem langen Seufzer aus vielen Mündern.

 

Ich lag keuchend auf felsigem Boden und spürte ein starkes Brennen im rechten Handgelenk. Mühsam schlug ich die Augen auf und setzte mich auf, wobei ich tunlichst nur den linken Arm als Stützte benutzte.

Eine Hand drückte meinen Rücken gegen die Felswand hinter mir und ich hätte die Wärme, die von den Fingern ausging, am liebsten in mich aufgesogen wie die salzige Luft in meine Lungen.

»Übertreib es nicht.« Amarin saß neben mir im Schneidersitz auf dem Boden und ich hätte jubeln können vor Freude, vor allem, als ich das lebhafte Glitzern in seinen Augen bemerkte.

»Sie sind erlöst!«, hauchte ich. »Und du… was ist geschehen?«

»Ich bin froh, dass du noch auf die Idee gekommen bist, den Seelenstein allein zu holen. Sie sind aus dem Wasser gehetzt wie fliegende Fische, pulsierende Lichtschweife… Auf der Suche nach einem Körper.«

»Und… sie?«

Er deutete wortlos in die Mitte der Höhle. Anstatt des schwarzen Wassers erblickte ich dort eine gähnende Leere, und als ich den Hals reckte, um den Grund zu erspähen, sah ich in einer Tiefe von gut zwanzig Metern eine kleine Ansammlung von bunten Fischleiber, keiner länger als 40 Zentimeter. Tot. »Die erste Seele, die sie damals freiwillig gestohlen hatten, ist geflohen und der Fluch, der seitdem auf ihnen lag, ist aufgehoben. Ihr Leben wurde erfüllt und sie durften sterben. Endlich.« Ich runzelte die Stirn, rappelte mich dann aber auf und trat an den Rand des einstigen Beckens, wo ich mit gesenktem Kopf ein Kreuz schlug. Nicht für Gott oder irgendeine andere höhere Macht, sondern für sie.

»Gehen wir.« Ich folgte Amarin gemessenen Schrittes zu dem Ausgang im Fels und wagte erst zurückzublicken, als die strahlend helle Sonne mir für einen Augenblick die Sicht nahm, die frische Brise über meinen Körper strich und das Tosen der Wellen meine Ohren erfüllte. Der Spalt war verschwunden.

Amarin quittierte meinem Blick mit einem Lächeln, eher er meinen Kopf so drehte, dass ich auf den Horizont des türkisblauen Meeres schaute. So blau wie seine Augen schimmerten, als er mir ins Ohr wisperte:

»Gemeinsam traten sie aus der Höhle, und als das Rausches des Meeres die Stille ablöste, da wussten sie, dass sie frei waren.«

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Kommentare: 4
  • #1

    Lilli❤ (Dienstag, 10 Juni 2014 19:57)

    Wow. Wunderschön, das ist so toll °-° hast du den Wettbewerb auch gewonnen?

  • #2

    silbernebel (Donnerstag, 12 Juni 2014 15:24)

    Die Geschichte macht einen erstmal sprachlos.
    Einfach wahnsinnig toll geschrieben, auch der Anfang mit der Amokläuferin, man denkt, die Geschichte nimmt einen ganz anderen Lauf.
    Ja, hast du gewonnen??

  • #3

    Flu (Mittwoch, 18 Juni 2014 19:01)

    Warte mal, wie drücke ich es am besten aus?? *o* so in etwa--
    Was für eine Story, intensiv geschrieben, überhaupt die Idee, klasse!
    Ich schreib ja auch so dies und das aber, o.k. das ist hier noch eine Klasse drüber.
    Oder zwei.
    Super:)

  • #4

    wordsdanceofwolves (Samstag, 23 August 2014 19:17)

    Einfach wunderschön*-* Es ist so schön deine Geschichten zu lesen und das meine ich ehrlich! Jedesmal werde ich wieder von deinen Worten für einige Zeit gefangen genommen und ich muss sagen das passiert mir so richtig eher selten... tolle Geschichte!